Binnengrenzen zu Polen und Tschechien fallen
20. Dezember 2007In der Nacht zum Freitag (21.12.2007) fallen im Rahmen des sogenannten Schengen-Abkommens die Kontrollen an den Grenzen zwischen alten und neuen EU-Staaten. Das Datum ist von hoher Symbolkraft für Millionen von Menschen, die im Osten des Kontinents Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang lebten. In Deutschland hingegen schürt der Abbau der Grenzkontrollen an den Übergängen zu Polen und Tschechien viele Ängste. Landauf, landab war Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in den vergangenen Monaten unterwegs, um diese Ängste vieler Bürger zu zerstreuen.
Schäuble will Deutschen die Angst vor offenen Grenzen nehmen
Immer wenn unter lauter Sicherheitsbedenken und Kriminalitätsängsten der europäische Einigungsgedanke völlig zu verschwinden drohte, dann versuchte Schäuble, ihn hochzuhalten: "Es ist ein Sicherheitsgewinn, aber man muss es dann doch sagen: Es ist natürlich auch ein Gewinn an europäischer Einigung, Integration, an Freiheit. Es gibt nicht mehr Mitgliedsländer erster und zweiter Klasse in der Europäischen Einigung, sondern wir sind alle gleich." Deutschland, das in seiner langen Geschichte von unendlich vielen Streitigkeiten, Auseinandersetzungen an Grenzen in Europa immer leidvoll geprägt gewesen sei, lebe nun in einem Europa, in dem es keine Grenzkontrollen mehr gebe, mit der kleinen Ausnahme, dass es für ein paar verbleibende Monate noch Grenzkontrollen zur Schweiz gibt.
Historisch besonders belastet: Die Oder-Neiße Grenze
Was Schäuble meint, wird besonders an der deutschen Grenze zu Polen deutlich, der so genannten Oder-Neiße-Grenze. Mit deren Festlegung durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verlor Deutschland ein Viertel seines Staatsgebietes und Millionen Menschen verloren ihre Heimat. Nur der eine deutsche Staat, die DDR, erkannte die Oder-Neiße-Grenze schon 1950 an. Allerdings weniger aus eigenem Antrieb sondern auf Druck Moskaus. Ostberlins starker Mann, SED-Chef Walter Ulbricht, verkündete nach der Unterzeichnung des sogenannten Görlitzer Vertrages, ein neuer Abschnitt in den Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen sei damit eingeleitet: "Es beginnt die Zeit der engsten freundschaftlichen Zusammenarbeit. Beide Völker schaffen an ihrem großen Aufbauwerk und sind deshalb vor allem an der Sicherung des Friedens interessiert."
Visumspflicht kurzfristig aufgehoben – bis Solidarnosc
Doch obwohl die 440 Kilometer lange Grenze entlang der Flüsse Oder und Neiße zwischen zwei sozialistischen Bruderländern verlief und offiziell "Friedensgrenze" hieß, blieb sie bis zum Ende der DDR 1990 streng gesichert. Jeder brauchte ein Visum und wurde peinlich auf Schmuggelware kontrolliert. Zuvor hatte nur die DDR einmal, im Jahr 1972, kurz die Grenzkontrollen aufgehoben und die Ostdeutschen reisten im Urlaub per "Trabbi" an die polnische Ostseeküste, in die Masuren und ins Riesengebirge. Die Polen fuhren vor allem zum Einkaufen ins nahe Ostberlin. Doch schon bald war damit Schluss: Von 1980 an waren Privatreisen aus der DDR nach Polen nur noch in Ausnahmefällen möglich. Die SED-Führung wollte ein Übergreifen der Solidarnosc-Ideen auf die DDR verhindern.
Willi Brandt erkennt die Oder-Neiße-Grenze 1970 an
In Westdeutschland wehrten sich lange Zeit vor allem die einflussreichen Vertriebenenverbände und mit ihnen die regierenden Unionsparteien CDU und CSU gegen eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Erst 1970 sah die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt die Zeit gekommen, einen Schlussstrich zu ziehen und neu zu beginnen: "Der Krieg und seine Folgen haben beiden Völkern, auch uns Deutschen, unendlich viele Opfer abverlangt. Jetzt geht es um die friedliche Zukunft zwischen den beiden Ländern und Völkern. Trotzdem muss ich gerade in dieser Stunde die heimatvertriebenen Landsleute bitten, nicht in Bitterkeit zu verharren, sondern den Blick in die Zukunft zu richten." Die Bundesrepublik akzeptierte 1970 die Oder-Neiße-Grenze faktisch als Westgrenze Polens. Außerdem versicherte sie, "keine Gebietsansprüche gegen Polen" zu haben. Das Bild von Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos ging um die Welt. Polen ließ als Gegenleistung eine größere Zahl von Deutschen und Deutschstämmigen ausreisen.
Nach dem Mauerfall 1989 kam das Thema Oder-Neiße-Grenze erneut auf die politische Tagesordnung. Polen fürchtete, ein wiedervereintes Deutschland könnte eine Revision der Grenzen fordern. Im November 1990 bekräftigten Deutschland und Polen per Vertrag endgültig den 1945 festgelegten Verlauf der Grenze. Außenminister Hans-Dietrich Genscher betonte: "Wir Deutschen sind uns bewusst, dass der heute unterzeichnete Vertrag nichts aufgibt, was nicht längst vorher verloren war, als Folge eines verbrecherischen Krieges und eines verbrecherischen Systems."Mit dem in Warschau unterzeichneten Abkommen wurde die Oder-Neiße-Grenze eine normale europäische Grenze und der Weg frei für den Wegfall der Kontrollen auch in Richtung Osten.