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PolitikEuropa

EU-Gipfel: Haushalt in Geiselhaft

Barbara Wesel
19. November 2020

Beim virtuellen Gipfel der EU-Regierungschefs geht es um die Corona-Pandemie und die jüngste Krise: Die Erpressung durch Ungarn und Polen, die den EU-Haushalt wegen der Klausel zur Rechtsstaatlichkeit blockieren wollen.

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Mateusz Morawiecki und Viktor Orban
Drohen mit Blockade: Ungarns Premier Viktor Orban und sein polnischer Amtskollege Mateusz MorawieckiBild: picture-alliance/Photoshot/M. Gillert

Als ob der Ärger über die angekündigte Erpressung der EU durch Warschau und Budapest nicht schon groß genug wäre, warf sich nun auch noch der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa ins Getümmel: Die europäischen Regierungen sollten sich doch auf das besinnen, was sie im Juli bei ihrem viertägigen Mammutgipfel zum Corona-Wiederaufbaufonds verabredet hätten. Jetzt davon abzuweichen sei doch, "wie über das Menu zu streiten, während das Schiff auf einen Eisberg läuft", ließ er in blumiger Sprache verlauten.

Wer ist hier der Eisberg?

EU-Diplomaten sagen dazu allerdings, Jansa habe nur seine Meinung geäußert und nicht angekündigt, dass er die Abstimmung über den EU-Haushalt und den Wiederaufbaufonds ebenfalls blockieren wolle. Dafür legte der ungarische Premier propagandistisch noch einmal nach: Der neue Rechtsstaatlichkeitsmechanismus sei dazu da, um "Länder zu erpressen, die sich gegen die Einwanderung wehren". In Brüssel würden nur "Länder, die Migranten aufnehmen, als Rechtsstaaten betrachtet", behauptete Viktor Orban.

Letztere Behauptung ist unwahr, und auch Janez Jansa scheint vergessen zu haben, dass er und die anderen Osteuropäer in Juli einer Rechtsstaatlichkeitsklausel im Prinzip bereits zugestimmt hatten. Allerdings geriet sie in der Auseinandersetzung zwischen dem Europäischen Rat und dem Europaparlament am Ende etwas kräftiger, als Ungarn und Polen Recht ist. Jetzt nehmen sie den Haushalt in Geiselhaft, um die Eingriffsmöglichkeit gegen den zunehmenden Abbau des Rechtsstaats in ihren Ländern wieder vom Tisch zu schaffen.

Titanic 1912
Der slowenische Premier vergleicht die EU mit der Titanic, die wegen der Rechtsstaatlichkeit auf den Eisberg laufen würdeBild: picture-alliance/Design Pics/K. Welsh

Hier ist die deutsche Ratspräsidentschaft gefragt. Staatsminister Michael Roth mahnte bereits, es sei "nicht die Zeit für Vetos, sondern für schnelles Handeln im Geiste der Solidarität". Aber ob sich der Eisberg in Gestalt der zwei Višegrad-Staaten durch Appelle beeindrucken lässt, ist ungewiss. Der niederländische Premier Mark Rutte warnte bereits, die neue Rechtsstaatsklausel sei für sein Land "das bare Minimum". Er will dem Erpressungsversuch auf keinen Fall nachgeben. Und der französische Europa-Minister Clément Beaune erklärte, dass Frankreich weder den Start des Corona-Fonds noch seine Werte infrage stellen lasse. "Als letzten Schritt werden wir prüfen, ob wir ohne die beiden Länder handeln können."

Diese Lösung hatten bereits Wirtschaftsexperten und der liberale EP-Abgeordnete Guy Verhofstadt ins Spiel gebracht: Es sei möglich, auch ohne Ungarn und Polen im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit einen Vertrag zwischen den Regierungen über den Corona-Fonds abzuschließen. Das sei zwar technisch kompliziert und würde Zeit kosten, wäre aber wohl machbar.

Belgien I EU-Gipfel in Brüssel
Die Einigung auf das EU-Finanzpaket im Juli dauerte vier Tage und war mühsam genug Bild: Reuters/Pool/J. Thys

EU-Diplomaten sagen dagegen, dies sei die allerletzte Option. Sie setzen zunächst auf Überzeugungsarbeit, denn die Verabschiedung des Haushalts 2021 und des Fonds lägen schließlich auch im Interesse der polnischen und ungarischen Regierungen, die sich hier als Geiselnehmer versuchten. 

Regierungschefs sollen standhalten

Starke Worte kommen dazu aus der EVP-Fraktion im Europaparlament: "Ich kann die Staats- und Regierungschefs nur davor warnen, jetzt einen krummen Deal zu Lasten der Rechtsstaatlichkeit auszuhandeln. Ich erwarte, dass Merkel und Macron mit ihren ungarischen und polnischen Gegenübern Klartext reden", erklärte der CSU-Abgeordnete Markus Ferber. Für das Parlament sei das Thema Rechtsstaatlichkeit keine Verhandlungsmasse - das gelte umso mehr, "wenn es von den größten Sündern in diesem Bereich in Frage gestellt wird".

Infografik EU Aufbaufonds Haushalt DE
Polen und Ungarn wollen den EU-Haushalt und den Corona-Aufbaufonds blockieren

Allerdings habe die EVP zehn Jahre lang Viktor Orbans Fidesz-Partei in ihren Reihen geduldet und seine antidemokratische Politik gedeckt, erinnern Sozialdemokraten, Liberale und Grüne. Trotz zunehmender Kritik in den eigenen Reihen sei die EVP immer noch nicht imstande, Orban rauszuwerfen. "Die gegenwärtige Suspendierung von Fidesz gilt nur für die Partei, nicht für die Fraktion im Parlament", erklärt der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund. In den Ausschüssen etwa könnten die Europaparlamentarier der Fidesz weiter mitmischen.

Auch er fordert die EU-Regierungen auf, sich jetzt von Ungarn und Polen "nicht erpressen zu lassen und bei der Rechtsstaatlichkeit nicht nachzugeben". Die Klausel, mit der Zahlungen an ein Mitgliedsland ausgesetzt werden können, solle einfach mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden. Dann müssten Polen und Ungarn akzeptieren, dass die Regelung in der Welt ist und ihre Erpressung würde ins Leere laufen. Man müsse beiden klar machen: "Wenn ihr Schaden anrichtet, bringt ihr die ganze EU gegen euch auf", sagt Freund.

UK-Premierminister Boris Johnson  telefoniert
Die Entscheidung über ein Handelsabkommen mit der EU liegt jetzt bei Boris Johnson Bild: Photoshot/picture alliance

Dauerthema Brexit

Weiteres Thema bei den Staats- und Regierungschefs ist der Stand der Brexit-Verhandlungen. Durch britische Medien geisterten in den vergangenen Tagen Gerüchte, eine Einigung auf ein Handelsabkommen mit Großbritannien stehe unmittelbar bevor. EU-Diplomaten gießen allerdings kaltes Wasser auf solche Hoffnungen: "Es gibt nichts, um diesen Optimismus zu nähren."

Stattdessen müsse sich Brüssel umgehend mit der Notfallplanung für einen No-Deal befassen, weil das Ende der Übergangszeit nur noch sechs Wochen entfernt sei. Dabei sei die Kommission am Zuge, die ihre überarbeiteten Pläne für den Güter- und Personenverkehr sowie alle anderen betroffenen Wirtschaftsbereiche in Gang setzen müsse. "Alle müssen sich jetzt vorbereiten", heißt die Devise. Wie groß die Störungen durch das Ausscheiden Großbritanniens aus dem Regelwerk der EU würden, sei noch ungewiss. EU-Unterhändler Michel Barnier will am Freitag die Botschafter der Mitgliedsländer in Brüssel über den Sachstand unterrichten. Bisher deutet noch nichts auf weißen Rauch aus dem Verhandlungssaal.