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PolitikEuropa

EU-Gipfel: Mehrheit gegen Viktor Orban

24. Juni 2021

Es wurde sehr laut und "emotional" am Gipfeltisch, sagen Diplomaten. Ungarns Premier wurde Diskriminierung Homosexueller vorgehalten. Ein Rauswurf aus der EU kam zur Sprache. Bernd Riegert aus Brüssel.

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Belgien Brüssel Europa-Gebäude "Space Egg"
Bis um zwei Uhr morgens wurde gestritten: Tagungsgebäude "Space Egg" in BrüsselBild: DW/B. Riegert

Mehrere Staats- und Regierungschefs trugen beim Gipfeltreffen in Brüssel eine kleine Regenbogenflagge am Revers, wie der belgische Premierminister Alexander De Croo, um gegen das ungarische Anti-Homosexuellen-Gesetz zu protestieren. 17 von ihnen unterzeichneten einen Brief, den der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel initiiert hatte. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte verlor die Geduld mit den ständigen Provokationen aus Budapest: "Für mich haben sie dann in der Europäischen Union nichts mehr zu suchen!" Rutte räumte aber ein, dass die EU Ungarn nicht aus der Union werfen könne. Das ist in den Verträgen nicht vorgesehen. "Ich kann sie nicht rausdrängen." Dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban müsse klar gemacht werden, dass die EU "eine Gemeinschaft von Werten" sei. "Wir wollen Ungarn in die Knie zwingen", so Rutte. Seinem belgischen Kollegen De Croo riss ebenfalls der Geduldsfaden. Viktor Orban soll nach der emotionalen Debatte nach Hause fahren und "darüber nachdenken, ob Ungarn noch einen Platz in der EU hat".

Brüssel EU Gipfel | Alexander De Croo
Farbe bekennen: Belgiens Premier De Croo protestiert mit dem Regenbogen am Revers gegen OrbanBild: Dursun Aydemir/AA/picture alliance

Bettel sieht rote Linie überschritten

In dem Schreiben der 17 Regierungschefinnen und -chefs an den Vorsitzenden der Gipfelrunde, Charles Michel, heißt es: "Wir müssen weiterhin gegen die Diskriminierung der LGBTQ-Gemeinschaft kämpfen und erneut bekräftigen, dass wir ihre Grundrechte verteidigen." Der luxemburgische Ministerpräsident Bettel, der mit einem Mann verheiratet ist, sagte, wer wie der ungarische Gesetzgeber glaube, dass Werbung Jugendliche schwul mache, "der versteht das Leben nicht." Bettel kritisierte weiter, mit dem Gesetz, dass die Darstellung von Homosexualität in Werbung und Medien verbiete, sei nicht nur eine orange, sondern eine rote Linie überschritten.

Brüssel EU Gipfel | Xavier Bettel
Schwuler Premier von Luxemburg, Xavier Bettel, sieht sich persönlich angegriffenBild: Dursun Aydemir/AA/picture alliance

Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel, für die es vermutlich der letzte EU-Gipfel vor der Bundestagswahl ist, hatte das Gesetz als "falsch" bezeichnet. Beim Abendessen hagelte massive Kritik auf den ungarischen Ministerpräsidenten ein. Die Diskussion sei "kontrovers, aber auch ehrlich gewesen", sagte Angela Merkel beim Verlassen des Gipfel-Gebäudes um zwei Uhr morgens. Nur der polnische Regierungschef habe Orban unterstützt und dessen Argumentation vom Schutz der Familie und der Kinder mitgetragen, hieß es nach der Sitzung. Andere östliche Mitgliedsstaaten wie Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien verhielten sich abwartend.

Brüssel EU Gipfel | Viktor Orban
Heterosexueller Premier Orban: Ich schütze Kinder und kämpfe für SchwuleBild: John Thys/AP Photo/picture alliance

Orban will nicht einlenken

Der ungarische Premier zeigte sich aber unbeeindruckt und sagte, "das Gesetz ist beschlossen, verkündet und das bleibt so". Orban bestand darauf, er sei schon zu kommunistischen Zeiten ein "Freiheitskämpfer für die Rechte der Schwulen" gewesen. Es gehe nicht um Homosexualität, sondern das Recht der Eltern zu bestimmen, wie die Sexualerziehung ihrer Kinder aussehen soll. Unter dem nationalkonservativen Ministerpräsidenten Orban war die Familie aus Frau, Mann und Kindern als Norm in die Verfassung aufgenommen worden. Gleichgeschlechtlichen Paaren wurde die Adoption von Kindern untersagt. Das bei der Geburt eingetragene Geschlecht kann auch bei Transsexuellen nicht mehr verändert werden. Bis 2010, als Orban erneut an die Macht kam, galt Ungarn als liberalstes Land im ehemaligen Ostblock, wenn es um die LGBTQ-Gemeinschaft ging. 1996 wurden bereits gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften rechtlich anerkannt. Mitte der 1960er Jahre wurde die Strafbarkeit von Homosexualität aufgehoben.

Ungarn steht ohnehin seit Jahren am Pranger der EU, weil die Regierung Orban systematisch die Freiheit der Medien, der Wissenschaft und der Justiz untergrabe. Die EU-Kommission hat mehrere Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof angestrengt. Der Ministerrat hat - zögerlich - ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der Lissabonner EU-Verträge eingeleitet, das noch weit von einem Abschluss entfernt ist. Mit dem neuen EU-Haushalt soll die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn bei der Auszahlung von Fördermitteln überprüft werden. Gegen diesen neuen Hebel läuft eine Klage Ungarns vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

Bessere Koordination bei Corona-Regeln

Die scharfe Auseinandersetzung mit Ungarn überschattete die eigentlichen Gipfelberatungen, die sich um die Corona-Pandemie, Russland und die Türkei drehten. Wegen der zunehmenden Ausbreitung der ansteckenderen "Delta"-Variante des Virus wollen die 27 EU-Staaten Einreisen aus Dritt-Staaten, zum Beispiel Großbritannien, nicht so schnell zulassen wie ursprünglich geplant. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte kritisiert, dass Portugal britische Touristen ins Land lässt, obwohl die britischen Inseln "Virus-Variantengebiet" sind. Wegen eines neuerlichen Corona-Ausbruchs musste die portugiesische Hauptstadt Lissabon vorübergehend wieder in einen Lockdown. "Wir müssen sehr wachsam bleiben", sagte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Die Gipfel-Runde war sich einig, dass sich die EU-Staaten besser absprechen müssten und stärkere EU-Institutionen für Gesundheitsvorsorge brauchten, zumindest für die nächste Pandemie, die hoffentlich nie kommen werde.

Infografik Die Impfrate steigt DE

Vorerst kein EU-Russland-Gipfel

Die Diskussion um den richtigen Umgang mit dem autokratischen Regime in Russland wurde beim Abendessen geführt - und führte nicht zu harten Beschlüssen. Die EU verständigte sich darauf, weiter einen Dialog mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf Feldern gemeinsamen Interesses anzustreben. Gleichzeitig sollen Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung der Opposition und die Verwicklung in die Konflikte in der Ukraine und Belarus weiter mit Sanktionen geahndet werden. Bundeskanzlerin Merkel sagte nach den Beratungen in der Nacht, sie hätte sich ein Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten vorstellen können und eine "mutigeren Schritt" der 27 EU-Mitglieder gewünscht. Es würden jetzt andere Formate erkundet. Es reiche nicht aus, dass nur der amerikanische Präsident Biden mit Putin spreche. 

Russische Präsident Vladimir Putin trifft mit ungarischem Ministerpräsident Viktor Orban
Gute Kontakte: Während die EU zögert, trifft Ungarns Premier Orban den russischen Präsidenten (re.) regelmäßig, hier 2018 in MoskauBild: picture-alliance/Russian Look

Der französische Präsident Emmanuel Macron unterstützte in Brüssel ein mögliches Gipfeltreffen mit dem russischen Machthaber. Andere EU-Staaten, vor allem aus Osteuropa, aber auch die Niederlande, lehnen ein direktes Gespräch derzeit ab. Russlands Präsident müsse zuvor einen Preis zahlen, bevor man mit ihm rede, verlangte der lettische Regierungschef Krisjanis Karins. Die Situation in Russland habe sich eher verschlimmert als verbessert. 

Türkei wird gebraucht

Mit der Türkei will die EU ihre Beziehungen verbessern, heißt es im Gipfelbeschluss. Allerdings müsse der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan weiter an der Entspannung der Konflikte mit Zypern und Griechenland im östlichen Mittelmeer arbeiten. Auf jeden Fall will man mit der Türkei an der Fortschreibung des "Flüchtlings-Deals" arbeiten. Für die Unterbringung und Versorgung syrischer Flüchtlinge werden der Türkei voraussichtlich weitere 3,5 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Außerdem soll an einer Erneuerung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei gearbeitet werden. Seit 2016 hält die Türkei Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien von der Überfahrt nach Griechenland ab und hat dafür bislang sechs Milliarden Euro kassiert. Rund vier Millionen Syrer leben inzwischen in der Türkei.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union