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PolitikEuropa

Bei Migration ein halbes Jahr verschenkt

14. Dezember 2020

Bundesinnenminister Seehofer wollte endlich eine Reform der Asylpolitik in der EU erreichen. Doch das gelang nicht. Beim letzten EU-Treffen in diesem Jahr wird Bilanz gezogen. Bernd Riegert aus Brüssel.

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Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos (Griechenland): Unverändert kritische LageBild: Panagiotis Balaskas/AP/picture alliance

Noch bis in den November hinein zeigte sich Bundesinnenminister Horst Seehofer als zeitweiliger Vorsitzender des EU-Ministerrates zuversichtlich, dass er den seit fünf Jahren tobenden Streit um die Migrations- und Asylpolitik beilegen könnte. Er wollte als Ratspräsident zumindest einen grundsätzlichen politischen Beschluss der 27 EU-Staaten erreichen, wie künftig Migranten und Flüchtlinge in der EU behandelt und verteilt werden sollen. Doch daraus wurde nichts.

In einer Bestandsaufnahme zum Asylthema, die die deutsche Ratspräsidentschaft am Montag vorgelegt hat, ist festgehalten, dass es in allen wesentlichen Punkten keine Einigkeit gibt. Die Innenminister der EU-Staaten stimmten dieser ernüchternden Bestandsaufnahme per Videokonferenz zu. Die Vorschläge zur Reform des Asyl- und Migrationsrechts, die die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, im September unterbreitet hatte, werden jetzt an die nächste, die portugiesische Präsidentschaft, weitergereicht.

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An der Videokonferenz der Innenminister wie hier im Juli nahm Horst Seehofer (li.) diesmal nicht teil: Er ist in Corona-Quarantäne (Archiv)Bild: Reuters/F. Bensch

"Der Knoten ist nicht zerschlagen"

Innenminister Seehofer blieb diese mehr oder weniger peinliche Bilanz persönlich erspart. Er ließ sich bei der Videokonferenz von seinem Staatssekretär vertreten, weil er wegen eines Corona-Kontakts in Quarantäne musste. Der "gordische Knoten" sei noch nicht endgültig zerschlagen, sagte Innenstaatssekretär Stephan Mayer. Die Mitgliedsstaaten seien aber "erhebliche Schritte" vorangekommen. Hochrangige EU-Diplomaten sehen das anders. "Das Migrationsthema ist ideologisch aufgeladen und das schwierigste Problem überhaupt, das die EU derzeit hat", sagte ein Diplomat in Brüssel. Der Außenminister Maltas, Evarist Bartolo, sieht trotz deutscher Vermittlungsbemühungen keinen wesentlichen Fortschritt. "Wir sind uns nicht näher als vor einigen Jahren", so Bartolo.

Kernfrage ungelöst

Die Kernfrage, wie und ob Migranten und Flüchtlinge, die in Italien, Griechenland, Spanien, Zypern oder Malta ankommen, auf die übrigen EU-Staaten fair und solidarisch verteilt werden sollen, ist seit Jahren ungelöst. Drei Fraktionen ringen miteinander. Die sogenannten "Frontstaaten", die als Erstankunftsland nach den geltenden "Dublin"-Regeln für die Migranten und Asylsuchenden zuständig sind, verlangen Entlastung durch Verteilung. Die westeuropäischen Staaten, die derzeit die meisten Flüchtlinge und Asylbewerber aufnehmen, wollen nicht noch mehr Migranten und die Osteuropäer daher in die Pflicht nehmen. Die osteuropäischen Staaten, allen voran Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei und auch Österreich wollen überhaupt keine Migranten aufnehmen, sondern sind allerhöchstens zu "flexibler Solidarität" bereit. Das könnte die Bereitstellung von Personal oder Geld sein.

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Bundesinnenminister Seehofer und die EU-Kommissarin Ylva Johansson setzen in ihren Vorschlägen auf stärkeren Schutz der EU-Außengrenzen, auf Asylverfahren direkt in Lagern an der Grenze, auf mehr Rückführungen und auf sogenannte "Abschiebe-Patenschaften". Länder wie Ungarn oder Polen sollen Migranten, die sich in Griechenland aufhalten und zum Beispiel nach Afghanistan zurück müssten, abschieben helfen. Ungarn und Polen haben dies bereits als undurchführbar zurückgewiesen. Sämtliche Vorschläge sind im Detail umstritten. Lediglich bei der groben Richtung, Grenzen schützen und mehr abschieben, gibt es eine gewisse Übereinstimmung der Interessen, stellte die deutsche Ratspräsidentschaft in der letzten Sitzung der Innenminister in diesem Jahr fest.

Belgien Brüssel | Anti-Terror-Kampf | Ylva Johansson
EU-Kommissarin Johansson: Kein Konsens für ihre Vorschläge Bild: Virginia Mayo/AP Photo/picture alliance

In der Praxis hat sich nichts geändert

Während sich die Minister streiten, ob es theoretisch geschlossene Lager für Migranten zum Bespiel in Griechenland oder Spanien geben kann, in denen diese für das Asylverfahren wochenlang festgehalten werden, spielen sich in der Realität, in den existierenden Lagern ganz andere Szenen ab. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und Hilfsorganisationen wie "Human Rights Watch" berichten nach wie vor von erbärmlichen Verhältnissen in griechischen Aufnahmelagern auf den Ägäischen Inseln. Im größten Lager Kara Tepe auf Lesbos leben rund 7500 Menschen in nicht winterfesten Zelten noch immer ohne ausreichend Wasser, sanitäre Anlagen oder Strom. Die griechische Regierung hatte das Lager in den letzten drei Monaten auf einem ehemaligen Truppenübungs- und Schießplatz aus dem Boden gestampft nachdem das Vorgängerlager Moria vermutlich durch Brandstiftung niedergebrannt war.

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Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis beschreibt zwar anhaltende Fortschritte in Kara Tepe, aber Bewohner des Lagers selbst sagen, Moria sei die Hölle gewesen, Kara Tepe sei schlimmer. Die Lobby-Organisation "Europäischer Rat für Flüchtlinge und Exil " (ECRE) hält die Bedingungen in Kara Tepe, wo wegen Corona auch noch ein strenge Ausgangssperre herrscht, in seinen Berichten für schlicht menschenunwürdig. Griechenland und die EU-Kommission haben vereinbart bis zum September 2021 in Kara Tepe eine Art Modell-Lager mit vorbildlichen Einrichtungen zu schaffen. Nur wenige Hundert Menschen wurden nach dem Brand in Moria von den Inseln auf das griechische Festland umgesiedelt. Die Zahl der neuen Ankünfte ist laut UNHCR auf der östlichen Mittelmeer-Route gegenüber dem Vorjahr stark gesunken.

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"Das kann noch dauern"

Italien und Malta nehmen nur zögerlich Migranten auf, die auf hoher See gerettet werden. Ihre Zahl geht nach Schätzungen des UNHCR ebenfalls zurück. Dafür steigt die Zahl von Migranten auf einer anderen Route stark an. Während die Innenminister im letzten halben Jahr weiter über Prinzipien stritten, stieg die Zahl der vornehmlich aus Afrika stammenden Flüchtlinge, die auf die Kanarischen Inseln (Spanien) übersetzten, unerwartet schnell. Die Inselregierung der Kanaren sieht sich mit mindestens 16.000 Ankünften in diesem Jahr überfordert.

Der hohe EU-Diplomat, der sich in Brüssel mit der Migrationsfrage beschäftigt und anonym bleiben will, wagte eine Prognose. "Das Problem wird in den nächsten Monaten auch von der portugiesischen Ratspräsidentschaft nicht gelöst werden. Das wird noch Jahre dauern."

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Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union