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EU-Parlamentspräsident: Demokratie in Gefahr

Peter Stützle, Berlin9. November 2012

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, sieht die Europäische Union in einer kritischen Phase. Es gehe in der aktuellen Situation darum, "die Demokratie zu retten".

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Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz während seiner Europa-Rede (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Prominenz hat Platz genommen. Cool Jazz, vorgetragen von einem Vibraphonisten und einem Saxophonisten, füllt die breite, hohe und unglaublich lange Halle des Paul-Löbe-Hauses. Sie ist eigentlich der überdachte Zwischenraum zwischen zwei großen Bürogebäuden voller Sitzungssäle des Deutschen Bundestages. Die Rundungen dieser Säle ragen in nacktem Beton von beiden Seiten in die Halle, im einsetzenden Abenddunkel unterstrichen von verdeckten Lichtleisten. Dazwischen führen viele gläserne Aufzüge hinauf bis zur achten Etage.

Die eigenartige Würde, die dieser moderne Zweckbau ausstrahlt, verstärkt die Eindringlichkeit dessen, was Martin Schulz zu sagen hat. Die christdemokratische Konrad-Adenauer-Stiftung, die kulturpolitische "Stiftung Zukunft Berlin" sowie die von einem Industriellen gegründete Robert-Bosch-Stiftung haben ihn eingeladen, die "Europa-Rede" zu halten.

Sichtbeton und ernste Worte

Die ersten beiden der jährlichen Europa-Reden hatten in Berliner Gebäuden stattgefunden, die zur Festlichkeit gemacht sind: 2010 im Pergamon-Museum mit dem Vorsitzenden des Europäischen Rats der Regierungschefs, Herman Van Rompuy, und 2011 im Haus der Berliner Festspiele mit Kommissions-Präsident José Manuel Barroso. Nun also Sichtbeton, Cool Jazz und Martin Schulz.

"In dieser Entwicklung, in der Märkte der Politik den Takt vorgeben, droht die parlamentarische Demokratie unter die Räder zu kommen. Denn Parlamente brauchen Zeit." So tönt es aus fünfzehn Lautsprechern, die zwei Etagen höher am Geländer eines Verbindungsganges montiert sind, auf die rund 900 Zuhörer hinab. Es gebe einen "Trend zur Vergipfelung", klagt der Präsident des Europaparlaments. In immer schnellerer Folge tage der EU-Rat, treffe Entscheidungen zu Detailfragen und "höhlt die Demokratie aus".

Vor Schulz hatte der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, in einer kurzen Rede daran erinnert, dass das deutsche Parlament Entscheidungsrechte verteidigen konnte, die in der Krise verloren zu gehen drohten. Jetzt, wo es darum geht, beim Fiskalpakt und weiteren institutionellen Reformen die parlamentarische Kontrolle zu wahren, versicherte Lammert seinem Nachredner: "Niemand muss fürchten oder darf hoffen, dass es da zwischen dem Bundestag und dem Europaparlament Rivalitäten gibt."

Flaggen wehen vor dem Gebäude des Europaparlaments (Foto: REUTERS)
Von der Krisenpolitik der Regierungen überrollt? Das Europaparlament in StraßburgBild: Reuters

Sorge vor Re-Nationalisierung

Unter den Zuhörern im Paul-Löbe-Haus sind auch junge Europäer. Sie beraten übers Wochenende auf einem Kongress in Berlin, wie den Menschen in ihren Ländern nähergebracht werden kann, dass sie Bürger Europas sind. Den Redner vor ihnen treibt die Sorge um, dass sich die Bürger im Gegenteil vom europäischen Gedanken entfremden. Dass die Krise sie zurück in nationalstaatliches Denken treibt. Solches Denken konstatiert Schulz auch in einigen europäischen Regierungen. Sie sähen EU-Gipfel als Veranstaltungen, auf denen es gilt, nationale Interessen durchzusetzen, nicht gemeinsame europäische Interessen.

Damit nicht genug der Gefahren. Der Friedensnobelpreis erinnere die Europäische Union daran, dass es ihren Gründern einst darum gegangen sei, dem Kontinent Frieden zu bringen. "Der Frieden ist wahrlich nicht in der europäischen DNA verankert", stellt Schulz nach einem kurzen Exkurs in die europäische Geschichte fest. Gleichzeitig habe man den Wohlfahrtsstaat als Sicherung gegen den Rückfall in den Extremismus geschaffen. Ausdrücklich lobte der Sozialdemokrat auch Christdemokraten wie Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi für diese Leistung. Um anzufügen: "Wenn heute wieder, wie von der Internationalen Arbeitsorganisation, von einer verlorenen Generation in Europa gesprochen wird, muss uns das aufschrecken." Hetze von Demagogen falle gegenwärtig auf fruchtbaren Boden.

Mahnung zu langfristiger Politik

Schulz sieht im Friedensnobelpreis vor allem den Auftrag, "von einer Politik der Kurzfristigkeit wieder zu einer Politik der Langfristigkeit zurückzukehren", wie sie alle großen Entscheidungen zur europäischen Einigung geprägt habe. Kurzsichtig sei, von Entscheidungen zum Euro Länder auszuschließen, die nicht zur Eurozone gehören. Denn alle EU-Staaten außer Großbritannien und Dänemark hätten sich verpflichtet, den Euro einzuführen, sobald sie die Kriterien erfüllen. Vor allem Polen, "die dynamischste Volkswirtschaft Europas", solle möglichst bald dem Euro beitreten.

Während der ganzen Rede ist es, nach Maßstäben des Berliner Regierungsviertels, ungewöhnlich still. Am Ende gibt es langen Applaus, die Gesichter bleiben ernst. Sie hellen sich erst auf, als das Jazz-Duo noch einmal seine Klänge durch die große Halle schweben lässt. Und als es zu einem zweiten Stück ansetzt, zieht es einen Teil der Zuhörer, Sorgen um Europa hin oder her, zum kalten Büffet.