1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

EU-Ratspräsidentschaft: Merkel soll's richten

1. Juli 2020

In der großen Krise Europas übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. "Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint", hat Merkel immer wieder gesagt. Jetzt wird es ernst.

https://p.dw.com/p/3eOun
Brüssel | EU Gipfeltreffen: Angela Merkel
Bild: Reuters/Y. Herman

"Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass wir vor der größten wirtschaftlichen Herausforderung in der Geschichte der Europäischen Union stehen." Bundeskanzlerin Angela Merkel macht in diesen Tagen immer wieder die Problemlage in der Europäischen Union deutlich. Die Lage zwischen Corona und wirtschaftlicher Erschütterung sowie Europa-Müdigkeit ist dramatisch. Und auf Merkel kommt diese Herausforderung als Aufgabe zu.

Dabei gilt: Merkel und Europa - das ist keine ganz leichte Beziehung. Für den letzten Unions-Bundeskanzler vor ihr, Helmut Kohl, war Europa aus eigenem Erleiden des Zweiten Weltkriegs ein Lebens- und Herzensthema: Krieg und Verlust, die Anfänge der europäischen Zusammenarbeit, die Entwicklung von Feinden zu Freunden - bis hin zur Freundschaft mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand, vor allem bis zur Einführung des Euro. Das war Kohls politisches Lebensthema. Auch wenn Parteifreunde nach dem Krach mit der konservativen Parteienfamilie und dem Abschied von der politischen Bühne auf Distanz zu Kohl gingen, er blieb für sie der große Europäer, wie auch Konrad Adenauer.

Merkels Blick von außen

Und Merkel? Parteiintern wurde ihr gerne ein allzu nüchterner Umgang mit dem Thema Europa nachgesagt. Im ersten Halbjahr 2007 führte sie, kaum eineinhalb Jahre Kanzlerin, schon einmal die deutsche Ratspräsidentschaft.

Frankreich | Angela Merkel im Europaparlament in Straßburg 2007
Angela Merkel am 17. Januar 2007 im Europaparlament in StraßburgBild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Bei ihrer ersten Rede als Ratsvorsitzende vor dem Europäischen Parlament am 17. Januar 2007 ging sie auf ihren Lebenslauf ein: "Mein ganzes Leben habe ich in Europa verbracht. In der Europäischen Union aber bin ich noch eine Jugendliche. Denn aufgewachsen bin ich in der ehemaligen DDR. (…) Ich kenne die Europäische Union bis zu meinem 35. Lebensjahr also nur von außen, und ich kenne sie seit 1990 von innen."

Glücklich vereint in der EU

Trotzdem sagte die damals 52-Jährige einige Wochen später bei der Feier zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, die so etwas sind wie das Gründungsdokument des modernen Europas, einen Satz, der seitdem zu den zentralen Aussagen ihrer Kanzlerschaft gehört: "Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint."

Diese durchaus mehrdeutige Formulierung taucht seitdem immer mal wieder in europapolitischen Grundsatzreden Merkels auf und verleiht ihnen Gewicht. Aber egal, ob im Pariser Elyseepalast Jacques Chirac (bis 2007), François Sarkozy (2007-2012) oder François Hollande (2012-2017) saßen, mit keinem Präsidenten Frankreichs wagte Merkel einen mutigen Schritt hin zu einem neuem europäischen Aufbruch - gegen die Verzagtheit, gegen die Populisten. 

Frankreich Macrons neue Partei La Republique en Marche
2017 Hoffnungsträger in Frankreich: Emmanuel MacronBild: Imago/Le Pictorium

Auch als Emmanuel Macron vor gut drei Jahren französischer Präsident wurde, warteten viele auf ein großes gemeinsames Europa-Projekt des deutsch-französischen EU-Tandems. Während seines Wahlkampfes war der Franzose als Hoffnungsträger mehrmals in Berlin gewesen. Sprach vor überfüllten Universitäts-Sälen, in denen prominente Sozialdemokraten lauschten, aber kaum ein Unionsvertreter. Macron formulierte Visionen, versprühte Optimismus. Aber nach seiner Wahl? Nichts passierte. Seinen kräftigen Aufschlag ließ Merkel letztlich unbeantwortet.

Risse im europäischen Haus

Doch nun, in der Krise 2020, wirkt Merkel tatkräftig und entschlossen. Als hätten sie die kräftigen Risse im gemeinsamen europäischen Haus erschüttert, die der Abschottung der Nationalstaaten in der Hochphase der Corona-Pandemieund der Re-Nationalisierung folgten. Wegbegleiter berichten, Merkel, nun 65-jährig, sei das Thema Europa zu einer Herzens-Angelegenheit geworden - wie bei Kohl.

Italien San Pietro | Transport von Särgen
Italien im März 2020, eines der besonders von Corona geschlagenen EU-LänderBild: picture alliance / Photoshot

Den jahrelangen Widerstand gegen die Vergemeinschaftung von Schulden gab sie zumindest teilweise auf und sorgte Mitte Mai mit Macron durch die Ankündigung eines kaum mehr vorstellbar großen Finanzpakets für so etwas wie Aufbruchstimmung in der EU. Dieses Corona-Rettungspaket, das vor allem Ländern wie Italien und Spanien zugute kommt, soll durch gemeinsame Schulden finanziert werden.

"Eine solche Krise erfordert auch die entsprechenden Antworten", sagte sie bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Mitte Mai. Sie stand im Berliner Kanzleramt, Macron im fernen Elyseepalast – und doch wirkten sie nah beieinander.

Das Ende einer Erbfeindschaft

Der betont gemeinsame Auftritt sollte unterstreichen, dass der sprichwörtliche deutsch-französische Motor wieder ins laufen gekommen ist. Merkel und Macron erinnerten an die Grundlagen der EU.

Wer sich in Berlin zwischen CDU-Parteizentrale, Kanzleramt und Bundestag bewegt, sucht vergeblich nach einem Denkmal für die EU zur Erinnerung an das Wunder der europäischen Einigung. Aber auf dem Weg von der CDU-Parteizentrale zur CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung findet sich immerhin ein Denkmal für die deutsch-französische Aussöhnung. Eine Erinnerung an die Aussöhnung zwischen Erbfeinden zweier Weltkriege.

Deutschland Gedenktafel an der Konrad-Adenauer-Stiftung, Adenauer - de Gaulle Denkmal
In Berlin erinnert eine Gedenktafel an die deutsch-französische Aussöhnung Bild: picture-alliance/imageBROKER/S. Grassegger

Im Zentrum der Arbeit am Rande des Tiergartens sind die reliefartigen Porträts von Charles de Gaulle (1890-1970) und Konrad Adenauer (1876-1967) platziert. Der französische Präsident (1958-1969) und der deutsche Bundeskanzler (1949-1963) fassen einander an den Händen. Das Monument erinnert den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963.

Über Gräbern Hände gereicht

Zur Einweihung des Reliefs 2003 kam politische Prominenz: Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005), Kanzler Helmut Kohl (1983-1998), Angela Merkel, damals CDU-Vorsitzende und Fraktionschefin der CDU im Bundestag, auch Alt-Bundespräsident Roman Herzog und der französische Außenminister Dominique de Villepin. Beide Länder wurden in den Trümmern des kriegszerstörten Europa nach 1945 zum Motor einer europäischen Einigung.

Die Akteure der ersten europäischen Aufbrüche waren Franzosen, Deutsche, Italiener. Doch nach Helmut Kohl und François Mitterrand, den beiden so unterschiedlichen Politikern, die 1984 über deutschen Soldaten-Gräbern in Verdun die Hände gereicht hatten, tat sich ein europapolitisches Vakuum auf.

Frankreich Verdun 1984 | Präsident François Mitterrand & Bundeskanzler Helmut Kohl
Über den Gräbern von Verdun 1984: Francois Mitterrand und Helmut Kohl Bild: picture-alliance/dpa/W. Eilmes

Der späte gemeinsame Aufbruch von Merkel und Macron soll die EU-Mitglieder nun wieder einen und vor allem wirtschaftlich stärken. "Es ist nur zu hoffen, dass Frankreich und Deutschland wieder zum Motor einer europäischen Einigung werden", sagt der italienisch-deutsche Philosoph Vittorio Hösle im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Vertiefung oder Kartenhaus?

Nach Helmut Kohl sei "für die Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses nur wenig getan" worden. Jetzt wollen Merkel, die auf ihre letzte europäische Etappe eingebogen ist, und Macron Europa wirtschaftspolitisch wieder erstarken. Es ist die aktuelle, aber längst nicht die einzige EU-Baustelle. Mag sein, dass sich Merkel mit einem Kraftakt in eine Reihe mit Adenauer und Kohl stellen kann.

USA | Philosoph Vittorio Hösle
Der Philosoph Vittorio HösleBild: University of Notre Dame

Philosoph Hösle, der in den 1990er Jahren auch mal das Kanzleramt beriet, hofft, dass die EU nicht nur eine Episode bleibt, sondern zur Epoche wird. Dass es eine stärkere europäische Einigung auch in Richtung eines Bundesstaates gibt. Ansonsten sieht Hösle schwarz, "wenn man nicht weitere Schritte der Vertiefung der Union geht, kann die EU wie ein Kartenhaus zusammenbrechen." Nicht wenig, was auf Merkel und die deutsche Seite zukommt.