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Politik

Europa wählt: Vorhang auf zum Finale

26. Mai 2019

An diesem Sonntag wählen 21 EU-Staaten - sieben haben schon abgestimmt. Das neue Europa-Parlament wird wohl ein wenig nach rechts driften, das liberale Lager ist unter Druck. Von Bernd Riegert, Brüssel.

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Europawahl 2019. Europäisches Parlament. Wandgemälde "The Future is Europe"
Haushoch optimistisch: Wandgemälde in Brüssel - Ist Europa wirklich die Zukunft?Bild: DW/B. Riegert

An diesem vierten Tag der Europawahlen gehen die meisten Wählerinnen und Wähler an die Urnen. In 21 EU-Mitgliedsstaaten haben die Wahllokale geöffnet, darunter in den größten Ländern Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen. Diese fünf zusammengenommen schicken fast die Hälfte aller Abgeordneten ins Europäische Parlament: 348 von insgesamt 751.

Gewählt haben seit Donnerstag bereits die Niederlande, Großbritannien, Irland, Lettland, Malta, die Slowakei und Tschechien, wo der Sonntag nicht der traditionelle Wahltag ist. Wahlberechtigt sind insgesamt 420 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Die Wahlforscher rechnen damit, dass die magere Wahlbeteiligung, die vor fünf Jahren bei 43 Prozent lag, diesmal leicht steigen könnte.

Liberale Demokratie ringt mit Nationalisten

Die großen Parteienblöcke haben diese neunten direkten Wahlen zum einzigen internationalen Parlament der Welt zur "Schicksalswahl" erhoben. Der Spitzenkandidat der Christdemokraten, der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber, und der Frontmann der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, EU-Kommissar aus den Niederlanden, waren sich im Wahlkampf in diesem Punkt einig. Ihnen geht es bei dieser Wahl um den Zusammenhalt der EU, die Verteidigung der "liberalen" Demokratien gegen das "illiberale" Modell, das von Nationalisten und Populisten vom Schlage des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban vertreten wird.

Europawahl 2019. Eigenwerbung des Europäischen Parlaments am Gebäude in Brüssel
Motivationsversuche in 28 Sprachen vor dem EU-Parlament: "Weil diesmal wählst du deine Zukunft"Bild: DW/B. Riegert

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert ein "Europa, das schützt" und will weitreichende Reformen im sozialen und wirtschaftspolitischen Bereich. Der Anführer der italienischen Rechtspopulisten, Matteo Salvini, will die Zusammenarbeit in Europa dagegen radikal zurückfahren. Er folgt - wie Rechtspopulisten in zahlreichen Mitgliedsstaaten der EU - dem Motto "mein Land zuerst!". Seine Partei wird in Italien wohl stärkste Kraft bei dieser Wahl.

Kollaps in Österreich

Die letzte Woche vor der Wahl brachte noch reichlich Drama. In Österreich zerbrach die national-konservative Regierung, weil die Rechtspopulisten von der FPÖ beim geplanten Ausverkauf Österreichs an russische Lockvögel per Video ertappt wurden. Ob dieser Skandal nur den Rechten in Österreich selbst schadet oder auch Auswirkungen auf die Wahlergebnisse in anderen EU-Staaten haben wird, bezweifeln Wahlforscher. Davide Ferrari vom Forschungsinstitut Votewatch in Brüssel sagte der DW, der Effekt werde auf Österreich begrenzt bleiben. "Rechte Wähler sorgen sich nicht so sehr um Ethik, ihnen geht es um Protest."

Hans-Christian Strache
Zurückgetretener Vizekanzler Strache: Schamloser Ausverkauf ÖsterreichsBild: Reuters/L. Foeger

Laut Umfragen, die aus den 28 Mitgliedsstaaten zusammengetragen werden, könnten die Rechtspopulisten und EU-Gegner 20 bis 23 Prozent der Sitze im neuen Parlament ergattern. Das sei natürlich eine ganze Menge, meint der EU-Experte Janis Emmanouilidis vom Thinktank "European Policy Centre", "aber das reicht nicht für eine Machtübernahme". Es werde den Rechten kaum gelingen, eine einheitliche Fraktion im neuen Parlament zu bilden.

Kopflos in Großbritannien

Ausgerechnet die Abgeordneten, die in Großbritannien gewählt werden mussten, könnten das Gefüge des neuen Parlaments verändern. Da der Brexit bislang gescheitert ist, mussten die Einwohner des Vereinigten Königreiches mitwählen. Die neue "Brexit-Party" wird wohl der Wahlsieger sein, aber auch die EU-Befürworter und Liberale werden gut abschneiden.

Desaströs wird die Abstimmung für die in London regierenden Konservativen ausgehen. Die erfolglose Premierministerin Theresa May gab auf. Sie kündigte einen Tag nach der Wahl am Freitag ihren Rücktritt an. May gestand ein, dass sie den Austritt Großbritanniens aus der EU in drei Jahren nicht organisieren konnte. Die offiziellen Ergebnisse aus Großbritannien werden aber - wie die Ergebnisse aus den übrigen EU-Staaten auch - erst an diesem Sonntagabend nach 22 Uhr veröffentlicht.

Leichter Rückenwind

Die britischen Sozialdemokraten, ebenfalls im Brexit-Sumpf gefangen, werden trotzdem wohl rund 20 Abgeordnete nach Straßburg schicken. Das erfreut die sozialdemokratische Fraktion, die dadurch nicht mehr so stark schrumpfen wird, wie von ihr nach Umfragen befürchtet werden musste.

Manfred Weber (l, EVP) und Frans Timmermans (SPE)
Spitzenkandidaten Weber und Timmermans: Verteidigung der "liberalen" DemokratieBild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

Das überraschend gute Wahlergebnis des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans in seinem Heimatland Niederlande am Donnerstag ist ein wenig Rückenwind, auch wenn es sich nur um zwei zusätzliche Sitze handelt. Allerdings werden die Labour-Abgeordneten vielleicht im Oktober wieder verschwinden - falls der Brexit dann tatsächlich vollzogen wird. Die Fraktion würde entsprechen schrumpfen.

Auswirkungen in Berlin

Das Abschneiden des europäischen Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU), der auch in seiner Heimat Deutschland die konservative Liste anführt, wird Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik haben. Die Direktorin der "Akademie für Politische Bildung" in Tutzing, Ursula Münch, sagte der DW, sie rechne mit Verlusten für CDU/CSU und die SPD - also für die drei Parteien, welche die Bundesregierung stellen. Entsprechend groß sei die Nervosität in der Regierungskoalition. Ursula Münch hält ein vorzeitiges Ende der Koalition oder eine Ablösung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als Folge des Europawahl-Ergebnisses für möglich.

In den vergangenen Wochen haben sich in einigen Mitgliedsstaaten die Schwerpunkte im Wahlkampf verschoben. In Deutschland und Dänemark geht es um den Kampf gegen den Klimawandel. In Griechenland und Italien streitet man über die Wirtschaftspolitik und gefühlte Bevormundung durch die EU. Das Thema Migration hält hauptsächlich noch der ungarische Premier Orban hoch, der das Christentum in Europa gegen eine "islamische Migrantenflut" retten will. Die meisten Wählerinnen und Wähler außerhalb Ungarns halten es aber gar nicht für bedroht.

Etwas Gelassenheit

Schicksalsfrage, Scheideweg, Weggabelung, letzte Chance? Sicher, die Wahl sei wichtig, meint der Sprecher der Europäischen Kommission, Margaritis Schinas, aber man dürfe auch nicht übertreiben. "Ich bin schon einige Jahre in der europäischen Politik. Ich kann mich an keine Wahl erinnern, wo es nicht geheißen hätte: 'Europa steht am Scheideweg.' Da stehen wir eigentlich immer und das ist gut so", sagte Schinas kürzlich in einem Interview mit dem Sender "Euronews". "Wir sollten nicht zu dramatisch auf die europäischen Wahlen zusteuern. Es ist der Moment europäischer Demokratie und den sollten wir irgendwie auch genießen."

Die erste Projektion mit der Sitzverteilung im neuen Parlament wird um 20.15 Uhr (MESZ) in Brüssel veröffentlicht. Ein sicheres Ergebnis aufgrund von ausgezählten Stimmen wird es zwischen 22.00 und 23.00 Uhr geben.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union