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Die Zukunft der EU

21. Juli 2008

Der Politologe Winfried Böttcher plädiert für ein regionales und föderales Europa, das den Nationalstaat überwindet. Denn dieser hat für ihn seine historische Funktion erfüllt.

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Seit Gründung der EGKS vor mehr als fünfzig Jahren hat sich an der Methode, Europa zu einigen, nichts geändert. Unter Vernachlässigung einer längerfristigen Zielperspektive findet Kooperation nach dem Verfahren "Versuch und Irrtum" statt. Interessen, Bedürfnisse, Funktionen und Aufgaben suchen sich adäquate Organisationsformen. Über die Formulierung, man strebe einen "immer engeren Zusammemmenschluss der Völker Europas" an, ist man nicht hinausgekommen. Zu der Formel "Europa schließt sich zusammen" konnte man sich bis heute nicht durchringen. Man nähert sich Europa pragmatisch, ohne zu wissen, welche Gestalt es am Ende haben soll. Die Frage, wie wir morgen in Europa leben wollen, wird erst gar nicht gestellt. Die Nationalstaaten als Träger einer so genannten europäischen Integration bevorzugen diese funktionalistische Methode schon allein deshalb, weil sie größtmögliche Souveränitätsansprüche

sichert.

Im Föderalismus liegt die Zukunft

Ich bin dagegen der Auffassung, dass Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn mit einem Föderalismuskonzept die normative Frage in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt wird. Dieses Konzept beruht im Gegensatz zu dem derzeitigen funktionalistischen auf einem klaren Integrationsansatz, der nach Johan Galtung ein Prozess ist, bei dem zwei oder mehr politische Akteure einen neuen Akteur bilden. Danach ist Europa unter Wahrung kultureller Vielfalt auf der Grundlage gemeinsamer Zielsetzungen und Werte zu einer politischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Einheit zu führen.

Voraussetzung dafür ist die Aufgabe nationalstaatlicher, an der Macht orientierter Souveränität und die Unterwerfung unter einen gemeinsamen Willen. Der Nationalstaat hat seine historische Funktion erfüllt. Er ist heute einer der Hauptstörenfriede im europäischen Integrationsprozess. Die an Staat und Staatsraison gebundene Theorie der Souveränität mit ihrer Trennung von Politik und Moral sowie dem absoluten Vorrang der Staatszwecke ist nicht länger tragfähig. In unserem Gegenmodell, einem Konzept eines Europa der Regionen, ist die Bürgerin/der Bürger die Zentralfigur der Demokratie.

Die Regionsräson als vergesellschaftete Staatsraison

Winfried Böttcher
Winfried Böttcher ist emeritierter Politik-Professor an der RWTH AachenBild: RWTH Aachen

Der Mensch als ein überstaatliches Wesen ist in seiner Region, in der er unmittelbar von politischen Entscheidungen betroffen ist, selbst Träger der Politik. Die regionale Gesellschaft als Zivilgesellschaft ist ihre eigene Herrin der politisch als notwendig zu treffenden Entscheidungen. Im Idealfall ist jeder Bewohner einer Region auch gleichzeitig aktiver Politiker, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen.

Der theoretische Überbau eines Europa der Regionen manifestiert sich in der Regionsräson, quasi als vergesellschaftete Staatsraison. Die Regionsräson bedeutet, unter Zugrundelegung des Strukturprinzips "Subsidiarität" auf subnationaler Ebene, also in einem verfassungsmäßig abgesicherten, föderativ europäischen Gefüge, nach eigenen Regeln den Regionszweck zu bestimmen. Die jeweilige Region lebt nach eigener Räson unter Einsatz ihrer endogenen Potentiale, der Berücksichtigung ihrer hervorstechenden Besonderheiten in kultureller, sozialer sowie unter weitgehend politischer Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung.

Subsidiarität neu denken

Regionalismus und Subsidiarität stehen in einem unauflöslichen Bedingungsverhältnis zueinander. Allerdings gehen wir in unserem Subsidiaritätsverständnis weit über den Ansatz des Artikel 5 im Amsterdamer Vertrag hinaus. Wir definieren Subsidiarität nämlich als "die aktive Unterstützung eines Nationalstaates oder der Europäischen Union, die lokalen und regionalen Subsysteme im Sinne demokratischer Partizipation höher zu entwickeln, selbst unter Hinnahme eigenen Machtverlustes".

Ein so verstandenes Subsidiaritätsprinzip unterstützt und verstärkt den autonomen, also lebendigen Regionalismus. Darunter verstehen wir einen solchen, der nahe beim Alltag der Menschen, möglichst mit solidarischer und demokratischer Beteiligung aller Betroffenen, die anfallenden Probleme zu lösen vermag. Europa von oben - wie es bisher versucht wurde zu bauen - ist krisenanfällig. Umso mehr Mitglieder Europa aufnimmt, desto anfälliger wird es. Seine Chance hat es dann von unten, wenn es den Bedürfnissen der Menschen in Bildung, Kultur, Freiheit, sozialer Sicherheit entgegenkommt, wenn auch der "normale" Arbeitnehmer das Gefühl hat, ohne die Europäische Union gehe es ihm schlechter.

"Die Klugheit des Kleinen"

Zusammenfassend halten wir fest: Eine zukünftige Europäische Union nach innen wie nach außen hat nur eine Chance über die Ausarbeitung einer Verfassung mit dem Ziel einer regionalisierten, föderativen Ordnung. Subsidiarität als Strukturprinzip bricht verkrustete Machtstrukturen auf, führt zu einer effizienten Umgestaltung bestehender Machtverhältnisse. Demokratie als Lebensform steht im Mittelpunkt, wird sinnlich erfahrbar, nahe beim Menschen sein. So wird es möglich sein, die "Klugheit des Kleinen" auszuspielen. Dann lassen sich adäquate Strategien entwickeln, um auch morgen noch unsere eigene gesamteuropäische Zukunft zu gestalten und die Zukunft der Welt europäisch mitzugestalten.


Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Böttcher ist emeritierter Politik-Professor an der RWTH Aachen. Innerhalb seines Lehr- und Forschungsschwerpunktes "Europapolitik" beschäftigt er sich intensiv mit dem Konzept eines föderalen Europas.