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Europa wirkt angesichts der Proteste überfordert

21. Februar 2011

Die Protestwelle in der arabischen Welt erfasst immer mehr Länder. Europa verfolgt dies weitgehend ratlos, meint Rainer Sollich, DW-Experte für die arabische Welt, in seinem Kommentar.

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Schriftzug 'Kommentar' (Grafik: DW)
Bild: DW

Was jahrzehntelang undenkbar schien, ist plötzlich Realität: Die Menschen in der arabischen Welt haben keine Angst mehr vor ihren Herrschern. Sie trotzen brutalster Gewalt und kämpfen mit unerschrockenem Mut für ihre Rechte, selbst um den Preis blutiger Massaker wie jetzt in Libyen. In einem atemberaubenden Tempo erfasst der revolutionäre Geist aus Tunesien und Ägypten immer mehr Länder. Ein Zukunftsversprechen schwebt zum Greifen nahe über der Region und wird als Signal des Aufbruchs verstanden: Veränderung ist möglich aus eigener Kraft heraus.

In Nordafrika und Nahost wird Geschichte geschrieben - und Europa als direkter Nachbar ist weitgehend zum Zuschauer degradiert. Es wundert nicht, dass die Europäer in dieser Situation ratlos und überfordert erscheinen. Demokratie und Freiheit - das sind ihre ureigensten Werte, dafür müssen sie auch nach außen einstehen. Zugleich arbeiten sie aber aus wirtschaftlichen und realpolitischen Erwägungen mit vielen autoritären Herrschern zusammen. Das Unrechtsregime des libyschen Diktators Muammar el-Gaddafi lässt Militär und Polizei auf die eigene Bevölkerung schießen. Dasselbe Regime sorgt aber auch dafür, dass die EU-Länder vor zusätzlichen Einwanderern abgeschirmt werden. Und es hat mit umfangreichen Öllieferungen auch einen Anteil daran, dass Europas Bürger täglich ihre Autos betanken können und im Winter nicht frieren müssen.

"Pro-" oder "anti-westliche" Kategorien führen in die Irre

Rainer Sollich, DW-Experte für die arabische Welt (Foto: DW)
Rainer Sollich, DW-Experte für die arabische WeltBild: DW

Nicht nur wegen dieses Erpressungspotentials zögern die Europäer, sich offen gegen den libyschen oder andere Diktatoren zu stellen. Sie wissen zudem auch nicht, welche Kräfte sich durchsetzen werden: "Pro-westliche" Demokratie-Aktivisten? Oder dieselben Kräfte, die erst vor fünf Jahren wegen der Propheten-Karikaturen europäische Generalkonsulate in Brand gesetzt hatten? Doch gibt es da überhaupt klare Trennungslinien?

Nein, die gibt es nicht. Die Protestbewegungen sind genauso vielschichtig und komplex wie die arabischen Gesellschaften insgesamt. Überall richten sich die Proteste gegen Willkürherrschaft, überall erschallen Rufe nach Demokratie. Aber die Proteste vermischen sich teilweise auch mit konfessionellen Konflikten und Stammesrivalitäten. Und sie binden neben liberalen Großstadt-Aktivisten auch Linke, Nationalisten und Anhänger des politischen Islam ebenso wie Tagelöhner und frustrierte Vorstadt-Jugendliche ohne politische Agenda. Kategorien wie "Pro-" oder "Anti-westlich" führen hier in die Irre. Der Ausgang der Proteste ist nicht vorhersagbar und von außen kaum zu beeinflussen.

Die angestrebte stärkere Ausrichtung der europäischen Nachbarschaftspolitik auf Demokratieförderung ist trotzdem richtig, klare Worte gegenüber Diktatoren ebenfalls - aber die Europäer wandern dabei auf einem schmalen Grad: Nicht nur die bedrängten Tyrannen, auch viele arabische Demokratie-Aktivisten signalisieren deutlich, dass Einmischung von außen unerwünscht ist. Vertrauen muss Europa erst noch aufbauen. Dies geht nur in Form einer partnerschaftlichen Unterstützung, von der die Menschen spürbar profitieren können - insbesondere in den Ländern, in denen die Tyrannen bereits vertrieben wurden und die nun ihre Gesellschaften völlig neu ordnen müssen.

Autor: Rainer Sollich
Redaktion: Marko Langer