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Literatur

Aslı Erdoğan: "In der Türkei bauen sie neue Gefängnisse"

Holger Heimann
22. April 2019

Die türkische Schriftstellerin Aslı Erdoğan saß vier Monate in einem Istanbuler Gefängnis. Im DW-Interview berichtet sie, was Folter aus Menschen macht, erzählt vom Leben als Exilantin und beklagt die Zustände daheim.

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Die türkische Schriftstellerin Aslı Erdogan
Bild: DW/Basak Demir

Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei 2016 wurde Aslı Erdoğan zusammen mit anderen Journalisten verhaftet und saß monatelang im Gefängnis. In ihrer Heimat ist sie noch immer wegen "Propaganda" und "Volksverhetzung" angeklagt. Heute lebt sie in Deutschland. Ihre Werke wurden mit einer Vielzahl von Preisen geehrt: 2010 erhielt sie den Sait-Faik-Preis, den bedeutendsten Literaturpreis der Türkei, 2017 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und 2018 den Prix Simone de Beauvoir. Aslı Erdoğan wurde 1967 in Istanbul geboren, studierte Informatik und Physik, arbeitete in der Schweiz und in Rio de Janeiro und ab 1996 wieder in Istanbul. Dort wurde sie zu einer Symbolfigur für den Widerstand gegen die Willkürherrschaft in ihrer Heimat.

Deutsche Welle: Ihr Roman "Das Haus aus Stein" erzählt von Menschen, die im Gefängnis gequält wurden und für immer durch Folter und der Furcht gezeichnet sind. Haben Sie mit Inhaftierten über ihre Erfahrungen gesprochen?

Als ich das Buch schrieb, war ich zuvor selbst noch nie im Gefängnis gewesen. Ich hatte einige Erfahrungen mit der türkischen Polizei, aber nicht mehr als das. Doch ich hatte Berichte gelesen und ja, ich habe auch mit vielen Menschen gesprochen, die gefoltert worden sind. Wenn ich diesen Menschen zugehört habe, dann war da immer mehr zwischen den Zeilen. Eine große, absolute Stille rund um dieses Trauma. Es war meine Absicht als Schriftstellerin, eine Sprache zu finden, die das Unsagbare sagen kann. Manches ist nicht sagbar. Auch wenn man selbst die Erfahrung der Folter gemacht hat, dieser Teil von einem bleibt stumm oder er schreit. Solch ein gequälter Mensch ist kein guter Geschichtenerzähler. Ein Trauma erzählt keine Geschichten.

Lässt sich mit den Worten eines Romans dieses extreme Leid, das Ausgeliefertsein zum Ausdruck bringen?

Das ist eine offene Frage. Es gibt den berühmten Satz, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden kann. Es ist eine ewige, unbeantwortbare Frage. Es gibt immer nur vorübergehende Antworten, neue Versuche und Fehlschläge. Nun, als ehemalige Gefangene, bin ich mit dieser Frage noch einmal anders, härter konfrontiert. 'Komm, du bist die Schriftstellerin, erzähle von deiner Gefängniserfahrung' - vor dieser Aufgabe stehe ich. Aber das ist sehr viel schwieriger, als ich gedacht habe.

Sie erzählen in einem ausführlichen Vorwort, das der deutschen Ausgabe Ihres Romans vorangestellt ist, auch von Ihrer eigenen Inhaftierung 2016. Wie haben Sie das erlebt, gedanklich noch einmal zurückzukehren in die für Sie fürchterliche Zeit im Gefängnis?

Ich habe mehrere Monate gebraucht, bis ich diesen Text schreiben konnte. Ich musste es immer wieder verschieben. Als ich dann begonnen habe, bildete sich ein Ekzem auf meiner Haut. Ich konnte den Stift kaum anfassen. Ich hatte zwei psychische Zusammenbrüche. Ich bin in Tränen ausgebrochen während des Schreibens. Aber schließlich dachte ich mir, das ist ein notwendiger Schritt, den ich gehen muss. Wenn man nur schweigt, dann kommt man nicht aus der Zelle heraus.

PEN International Aktion für Autorin Asli Erdogan
Die Schriftstellervereinigung PEN kämpfte für die Freilassung von Aslı Erdoğan.


In dem Vorwort schreiben Sie: "Es ist ganz natürlich, dass mir eines Tages selbst zustoßen sollte, was ich erzählte und schrieb." Wie meinen Sie das?

Was immer ich schreibe, geschieht, entweder mir selbst oder anderen. Dieser Sinn für das Prophetische ängstigt mich. Denn mit dieser Prophetie sind oft negative Dinge verbunden. Ich war nicht überrascht, als ich inhaftiert wurde. Ich wusste, es würde kommen.

Im Zentrum Ihres Schreibens, sowohl in den journalistischen Arbeiten als auch in Ihren Romanen, stehen die Opfer. Woher rührt diese Fokussierung?

Es ist eine bewusste Wahl. Die Geschichte der Opfer ist essentiell für die Menschheit, die Welt, in der wir leben. Ansonsten gäbe es eine große Leere, einen Mangel an Bedeutung. Aber auf der anderen Seite ist das keine komplett bewusste Wahl. Ich bin natürlich, so wie alle anderen Menschen auch, ein Produkt meiner eigenen Vergangenheit, vor allem meiner Kindheit, die sehr schwierig war. Wahrscheinlich versuche ich immer noch, meine Mutter vor meinem gewalttätigen Vater zu schützen. Aber ich stehe hinter dieser Wahl. Ich bin auf der Seite der Opfer. Ich bin auch ein Opfer. Warum sollte ich mit den Gewinnern solidarisch sein?

Sie kamen 2017 nach Deutschland. Wie leben Sie hier?

Das Leben hier ist für mich eine Passage, eine Brücke. Ich habe mich nicht heimisch niedergelassen. Die Täter in der Türkei lassen sich Zeit. Mein Fall ist nicht abgeschlossen - seit zweieinhalb Jahren nicht. Ich versuche, hier keine allzu festen Wurzeln zu schlagen, um bereit zu sein, meinen Koffer abermals zu packen. Es ist nicht einfach, so zu leben.

Wollen Sie zurück in die Türkei?

Nein, ich werde wahrscheinlich anderswo hingehen. Die Hoffnung, in die Türkei zurückkehren zu können, wird immer kleiner. Realistisch betrachtet, sollte ich mindestens für die nächsten zehn Jahre planen, im Ausland zu bleiben. Es gibt sehr harte Strafen für diejenigen Menschen, die dieser Tage in der Türkei vor Gericht stehen.

Sie haben wenig Hoffnung, dass sich an der Situation in Ihrer Heimat etwas ändert?

Es gibt mehr als 300.000 Gefangene im Moment. Als ich inhaftiert wurde, waren es 160.000. Die Türkei bricht einen Rekord nach dem nächsten. 170 Journalisten sind im Gefängnis, viele Mitglieder und Funktionäre der kurdischen Partei wurden inhaftiert. Sie bauen neue Gefängnisse, bis 2021 soll die Kapazität auf eine halbe Million steigen. Die Situation ist sehr traurig, viel trauriger, als sich das in der deutschen Presse widerspiegelt. 

Ihren in der Türkei bereits 2009 erschienenen Roman "Das Haus aus Stein" hat die Autorin für die deutsche Ausgabe um einen Essay ergänzt. Darin schreibt sie über ihre Haftzeit im Frauengefängnis Bakırköy-Istanbul. Mit Aslı Erdoğan sprach Deutsche Welle-Autor Holger Heimann.