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Extremes Experiment: 40 Tage in finsterer Höhle

7. April 2021

Wie reagieren Körper und Psyche, wenn jeder Bezug zur Zeit fehlt? Die riskante Belastungsprobe soll lange Weltraummissionen vorbereiten. Ein ähnliches Projekt geriet vor 50 Jahren außer Kontrolle.

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Vorbereitungen des Deep Time-Experiments in der Lombrives-Höhle
Letzte Vorbereitungen für das Deep Time-Experiment in der Lombrives-Höhle Bild: Stéphanie Leborne//MAXPPP/dpa/picture alliance

Mehr als die Hälfte des Experiments ist bereits geschafft. Aber das wissen die 15 Probanden in der Höhle vermutlich nicht. Denn sie haben keinerlei Uhren oder Handys, die ihnen die Zeit verraten könnten. Das Experiments soll zeigen, wie sich Körper und Geist verhalten, wenn jeder Bezug zu Raum und Zeit verloren geht.

Für das spektakuläre, aber ethisch bedenkliche "Deep Time"-Experiment  ließen sich 15 Personen am 14. März in einer Felsenhöhle im Südwesten Frankreichs einschließen. Ohne Tageslicht, ohne Kontakt zur Außenwelt. Wie viel Zeit bereits vergangen ist und wie viel Tage sie noch in der Höhle verbringen müssen, können die Probanden nur erahnen.

Minimale Grundversorgung

Vier Tonnen Material wurden vorab in die Höhle geschafft. Aber das macht die stockfinstere Lombrives-Höhle, eine der größten Europas, auch nicht heimeliger. In ihr herrschen konstant zwölf Grad Celsius und eine Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent.

Für die Probanden wurden in der Höhle "drei getrennte Lebensräume eingerichtet: einer zum Schlafen, einer zum Wohnen und einer zur Erforschung der Topographie des Ortes, der Fauna und Flora im Besonderen", so der französisch-schweizerische Initiator Christian Clot.

Zwar ist ausreichend Nahrung für die 40 Tage vorhanden. Aber den Strom für Lampen und einen kleinen Elektroherd müssen die Probanden selbst per Muskelkraft erzeugen. Das Wasser müssen sie aus einem natürlichen Brunnen in 45 Metern Tiefe schöpfen.

Wertvolle Erkenntnisse für lange Weltraummissionen

Die Idee zu dem Experiment kam Christian Clot, dem Leiter der Mission und Gründer des Human Adaptation Institute, durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit während des Corona-Lockdowns, wenn die gewohnten Tagesstrukturen nicht mehr existieren.

Das laut Clot "weltweit einzigartige" Experiment soll zeigen, wie Menschen auf den sogenannten Referenzverlust reagieren, also den Entzug eines zeitlichen Bezugspunktes, wann etwa die Sonne auf- oder untergeht. Die gesammelten Erfahrungen könnten für bekannte Langzeitmissionen im Weltall wichtig sein.

Aber auch für die Besatzungen von U-Booten oder auf entlegenen Forschungsstationen in der Arktis oder Antarktis. Daher wird das 1,2 Mio. Euro teure Experiment nicht nur durch private und öffentliche Gelder finanziert, sondern auch vom französischen National Center for Space Studies unterstützt.

Was nach einem teuren Abenteuertrip klingt, ist ein durchaus riskantes Unterfangen: Die Zeitlosigkeit könnte dramatische Auswirkungen auf Psyche und Körper haben, weshalb die Probanden permanent mittels Sensoren von einem Team aus Medizinern und Psychologen überwacht werden.

Die Sensoren zeichnen ihren Stoffwechsel, den Kreislauf, den Schlaf und andere Vitalfunktionen auf. Zusätzlich müssen die Probanden spontan und unangekündigt an Tests zur Konzentration, zum Gleichgewicht und zur Koordination teilnehmen.

Bunte Höhlen-Truppe

Bei den 15 Freiwilligen handelt es sich neben dem Initiator und Forscher Christian Clot um sieben Frauen und sieben Männer im Alter von 27 bis 50 Jahren. Sie bringen ganz unterschiedliche Biografien und Fähigkeiten mit in die Höhle.

Unter ihnen ist eine Krankenschwester und ein Anästhesist, ein Biologe und ein psychomotorischer Therapeut, ein Mediator, eine Geowissenschaflerin und eine Trekführerin, eine Wirtschaftsanalystin, ein Mathelehrer und ein Unternehmer, ein Seilzugtechniker und eine Neurowissenschaflerin, eine Juwelierin und ein Arbeitsloser.

Riskanter Menschenversuch

Trotz der kontinuierlichen Kontrolle fürchten Kritiker des Experiments kurzfristige oder auch langfristige psychologische Schäden, die nicht vertretbar seien. Die Initiatoren verweisen auf eine Ethikkommission, die alle Aspekte kontrolliere und die auch für eine intensive psychologische Nachbetreuung sorgen werde.

Die Sorgen sind indes nicht unbegründet, denn vor diesem "weltweit einzigartigen" und "beispiellosen" Experiment gab es bereits zwei sehr ähnliche Experimente, wovon eines ziemlich außer Kontrolle geriet.

"Mein Gott, warum habe ich bloß solche Ideen?"

1962 verbrachte der französische Geologe Michel Siffre zwei Monate alleine ohne Uhr in einer Höhle bei konstant null Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die ganze Ausrüstung, Zelt, Kleidung, Schuhe, alles war permanent nass. Siffre litt unter schlimmen Rückenschmerzen, wurde depressiv. In sein Tagebuch kritzelte er irgendwann: "Mein Gott, warum habe ich bloß solche Ideen?"

Französischer Höhlenforscher Michel Siffre winkt den Fotografen zu als er am 14.2.2000 nach 76 Tagen Aufenthalt in der Grotte von Clamouse in der Region Languedoc in Südfrankreich wieder auftaucht
Höhlenforscher Siffre zieht es trotz der Extremerfahrung immer wieder in HöhlenBild: Saint-Jean-De-Fos/dpa/picture alliance

Als er nach 58 Tagen wieder aus der Höhle geholt wurde, glaubte er, es seien nur 25 Tage gewesen. Sein Körper hatte sich vollkommen auf einen 48-Stunden-Rhythmus umgestellt. Er blieb 36 Stunden wach und schlief dann zwölf Stunden.

Diese Erkenntnisse zum Schlafrhythmus fand auch die NASA wichtig für lange Reisen im Weltall und so überredete sie Siffre zu einem weiteren Isolationsexperiment - für sechs ganze Monate. 1972 verbrachte der 33-jährige Siffre erneut alleine 205 Tage in der texanischen Midnight Cave in Texas.

Zeitlosigkeit macht vergesslich, verzweifelt und verrückt

Die ersten Wochen verliefen problemlos, aber nach drei Monaten geriet das Experiment außer Kontrolle.

Siffre bekam Panikattacken, wurde depressiv, hatte Suizidgedanken, verlor sein Gedächtnis. Er wollte sich sogar sein Bein absichtlich brechen, nur um aus der Höhle herauszukommen, erzählte er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

"Mein Stolz und mein Ehrgeiz als Wissenschaftler verboten es mir, einfach aufzugeben - aber ich wollte unbedingt raus aus der Höhle." Deshalb überlegte er sich Ausreden: "Ich erwog ernsthaft, mir selbst ein Bein zu brechen oder den Staub einzuatmen, um eine Lungenkrankheit zu bekommen. Ich war total irre."

Nur aus Angst vor enormen Schulden auch für seine Familie brach er den Versuch nicht ab. Als er nach 205 Tagen ohne Zeitbezug die Höhle verließ überwog zwar die Freude über die überstandene Tortur, aber auch viele Monate nach dem riskanten Experiment litt er noch an Depressionen und Lethargie, an Augenproblemen und großen Gedächtnislücken.

Die aktuellen Höhlenforscher werden zum Glück engmaschig überwacht und sind nicht alleine. Am 23. April dürfen sie die Höhle dann endlich wieder verlassen.

 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund