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Der professionalisierte Bürger

8. Mai 2011

Ein Diplom dafür, dass man Bürger ist? Das gibt es nur an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung. Vor einem Jahr startete dort "Der professionalisierte Bürger", ein Studium Generale, das Bürger zu Diplom-Bürgern macht.

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Screenshot Der professionalisierte Bürger (Studium Generale der HfG Karlsruhe)

Der Vortragssaal ist gut gefüllt. Der Kulturwissenschaftler Bazon Brock gibt letzte Instruktionen für die nächste Aktion. Er spricht von Ewigkeitskultur. Sinnsprüche ihres Lebens sollen die zwei- bis dreihundert Seminarteilnehmer auf ein Stück Stoff nähen oder eingravieren. Dinge, die sie der Nachwelt über sich oder über die Welt, in der wir leben, mitteilen wollen. Nicht nur große Berühmtheiten, sondern jeder kann sich auf diese Weise selbst verewigen. Der Aufbewahrungsort für diese Stoffstreifen: ein ehemaliger Atomschutzbunker.

Müll verpflichtet

Bazon Brock ist in seinem Element, agiert und doziert über Müll, den jeder produziert und deshalb auch verantwortlich entsorgen muss. Videoclips, die seine Studenten gedreht haben, untermalen auf der Projektionsfläche hinter ihm auf witzig-ironische Weise das Gesagte. Der Bürger als bewusster Konsument, der lernen muss, mit seinem Müll umzugehen. "Alle sind verpflichtet zum Ewigkeitsdienst!", findet der Professor. Angesichts der Reaktorkatastrophe in Fukushima bekommt das Thema einmal mehr eine aktuelle Brisanz.

Hochschule für Gestaltung Karlsruhe: Prof. Dr. Bazon Brock bei der Veranstaltung 'Der professionalisierte Bürger' (Foto: HfG/ Alina Schmuch)
Professor Bazon Brock doziert über verantwortungsvolle Müllentsorgung ...Bild: HfG/ Alina Schmuch

Aktuelle Themen fließen ständig ein

Genau das schätzt Anna Gates aus Neuseeland an der Veranstaltungsreihe. "Die Dozenten gehen immer auf aktuelle Themen ein. Das macht die Sache so spannend. Ich interessiere mich zum Beispiel für den Islam und wie sich die islamische und die westliche Kultur gegenseitig sehen." Ein aktuelles Thema, das Philosoph und Altphilologe Manfred Schlapp in seinen Vorträgen erörtert. "Dabei setzt er sich auch kritisch mit der europäischen Betrachtungsweise auf den Islam auseinander, das gefällt mir", sagt die Medienkunst-Studentin. Anna ist an diesem Abend eine der jüngeren Zuhörerinnen, denn das Durchschnittsalter der Teilnehmer liegt eher im Rentenalter.

"Hauptfächer des Lebens"

Wenn der Philosoph und Rektor der Hochschule, Peter Sloterdijk, spricht oder der Kulturwissenschaftler Bazon Brock, dann ist der Saal besonders voll. Gemeinsam haben die beiden Professoren das Projekt "Der professionalisierte Bürger" als Studium Generale an der Hochschule entwickelt. Eine Veranstaltungsreihe, die seit zwei Semestern jedem Bürger offensteht, betont Peter Sloterdijk. "Wir haben sozusagen 'Hauptfächer des Lebens' gebildet." Schließlich sei jeder Bürger Konsument, Patient, Rezipient oder glaube an etwas. An der Hochschule für Gestaltung kann er seine vorhandenen Fähigkeiten weiter ausbauen und sich qualifizieren. Es gibt zwar kein echtes anerkanntes Diplom am Ende, aber wer die Vorlesungen zwei Jahre lang regelmäßig besucht, kann sich als Diplom-Bürger, -Konsument, -Patient, -Rezipient oder -Gläubiger in der Welt behaupten.

Einmischen ist erwünscht

Den Vortragenden geht es darum, die Bürger zu ermutigen, sich einzumischen, sei es beim Umgang mit Atommüll, beim Arztbesuch oder in der Politik. Viola Birkholt ist 70 Jahre alt und besucht die Vorlesungsreihe regelmäßig. Ihr wird durch die Vorträge wieder bewusst, dass viele Dinge an ihr persönlich liegen. "Ich kann mich selbst auch schulen, um dann einem Arzt gegenüber zu treten und ihm klar zu machen, was ich für richtig halte, und wie ich die Sachen sehe. Wenn ich eine Meinung habe und dann noch eine Ahnung dazu, ist das nicht schlecht."

Jeder ist selbst verantwortlich

Ob Arztbesuch, Islam, Wirtschaftskrise, Klimaschutz oder Kunst: Wer bei all diesen Themen mitreden und vor allen Dingen Verantwortung übernehmen will, der sollte auch entsprechend geschult sein. Diese Ansicht vertritt der Kulturwissenschaftler Bazon Brock schon seit Jahrzehnten. Bei der berühmten Kunstschau documenta richtete er 1968 erstmals sogenannte "Besucherschulen" ein. Diese Besucherschulen sollten dem Publikum nicht nur die Kunst, sondern auch die Auswahlkriterien der Kuratoren näher bringen, um die internationale Kunstschau besser beurteilen zu können. "Der professionalisierte Bürger" gehe einen Schritt weiter, erläutert Bazon Brock. Als Käufer, Wähler oder Besucher einer Ausstellung solle man nicht nur beurteilen, was andere machen, sondern auch sich selbst im Verhältnis zu einer Sache sehen. "Jeder ist selbst verantwortlich für das, was er im Endeffekt über die Welt als Urteil vertritt, und das muss er ausbilden, das muss er üben."

Wer zum Beispiel verlockenden Angeboten in der Werbung verfällt, sollte sich nicht über die Werbung beschweren, sondern sein Konsumverhalten überprüfen und ändern. Im Endeffekt geht es darum, dass die Bürger nicht nur etwas beurteilen können, sondern auch selbst Verantwortung übernehmen und entsprechend handeln.

Der Profi-Bürger ist ein Weltbürger

Teilnehmer einer Demonstration von Gegnern des Bahnprojektes 'Stuttgart 21' (Foto: dapd)
Mündige Bürger demonstrierenBild: dapd

Die Proteste in Stuttgart gegen ein großangelegtes Neubauprojekt für einen unterirdischen Bahnhof haben die Dozenten in ihrer Art der Bürgerakademie bestätigt. Die Bürger lassen sich nicht mehr alles gefallen. Ähnlich ist es mit den Protesten in Nordafrika. Die Demonstranten sieht Bazon Brock als mündige Bürger, die den Willen haben, sich zu befreien. "Der Profi-Bürger hat neben dem freien Bürger noch die Fähigkeit, die richtigen Instrumente oder die fehlenden Kenntnisse zu erwerben, um aus der Freiheit was zu machen, und das ist der Übergang vom mündigen Bürger zum Profi-Bürger." Denn Bürger sein hieße, sich für mehr als sich selbst verantwortlich zu fühlen, meint Bazon Brock. Im Idealfall sei der Profi-Bürger ein Weltbürger. "Ein Weltbürger sieht die Menschheit als Einheit und urteilt und handelt aus der Verantwortung für die ganze Menschheit." Das Studium Generale an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung soll ein Schritt in diese Richtung sein.


Autorin: Gaby Reucher
Redaktion: Claudia Unseld