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"Für Marcel"

1. Juni 2010

Was schenkt man einem "Literaturpapst" zum Neunzigsten? Das Jüdische Museum hatte eine originelle Idee: Es organisierte ein virtuelles Stelldichein mit den Granden der deutschen Literatur. Roter Teppich inklusive.

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Ausstellungsplakat "Für Marcel" - zu Ehren von Marcel Reich-Ranicki im Jüdischen Museum Frankfurt.Bild: Jürgen Hube
... Reich-RanickiBild: Jürgen Hube

Illustre Gäste haben sich zu Ehren von Marcel Reich-Ranicki im Jüdischen Museum Frankfurt versammelt. Heinrich Böll und Günter Grass, Sarah Kirsch und Christa Wolf, Erich Fried, Ruth Klüger, Max Frisch. Auch John Updike und Arthur Miller. Allesamt gute Bekannte des Jubilars. Gekommen sind sie in Gestalt von Büchern aus dem kleinen Ort Marbach und seinem Literaturarchiv: Früher standen die Bände in den Bücherregalen von Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Wohnung. Vor einiger Zeit hatte der Literaturkritiker sie als "Vorlass" dem Marbacher Archiv vermacht. Es sind sogenannte Widmungsexemplare, von den Autoren handsigniert und mit persönlichen Bemerkungen an die Adresse des Beschenkten versehen: Bewunderung und Verehrung, aber auch kleine Seitenhiebe, geschrieben mit spitzer Feder.

Illustre Freunde

Marcel Reich-Ranicki dankt für die Würdigungen im Jüdischen Museum Frankfurt. Foto: Jürgen Hube
"MRR" am RednerpultBild: Jürgen Hube

Am Anfang finde sich das Buch eines Freundes und Gönners. "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" wurde vom Autor Heinrich Böll 1958 überreicht mit der Widmung: "Als kleine Weihnachtsgabe in diesem Land, das zwar nicht fremd ist für Sie, aber doch ein anderes Land". Zu dieser Zeit, dreizehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, war Marcel Reich-Ranicki – der im Holocaust seine Familie verloren und selbst nur knapp im Ghetto und im Versteck überlebt hatte – mit seiner Frau gerade in die Bundesrepublik übergesiedelt. Böll hatte ihm geholfen, hier Fuß zu fassen.

Der Tübinger Professor Walter Jens schenkte 1962 einen Roman mit der Anmerkung: "Meinem lieben Marcel, dem Trumpf-As der deutschen Literaturkritiker in neidloser Bewunderung." Friedrich Torberg, Schriftsteller und Publizist aus Österreich, schrieb in sein Buchgeschenk: "Marcel Reich-Ranicki, dem Gesprächspartner, in gegenseitigem Freundschaftsverdacht". Die Lyrikerin Ulla Hahn dankte überschwänglich für ihre Entdeckung – die sie offenbar als eine Art Wiedergeburt unter der väterlichen Fürsorge des Großkritikers erlebt hat: "Für den, der mich 1979 zur Welt brachte." Autor Hellmuth Karasek – in der legendären Fernsehsendung "Das literarische Quartett" jahrelang Gegenpart des Jubilars – ist in der Ausstellung interessanterweise mit dem Buch "Karambolagen - Begegnungen mit Zeitgenossen" vertreten.

Mit spitzer Feder

Aufs wunderbarste ergänzt wird diese ganz spezielle Bücherschau durch eine Auswahl von Zeichnungen, ebenfalls aus dem Besitz von Reich-Ranicki. Max Frisch, gezeichnet von Otto Dix, blickt mit dicker Brille etwas vorwurfsvoll in die Runde. Günter Grass entpuppt sich einmal mehr als genialer Zeichner. Von ihm gibt es ein Selbstporträt mit Kröte und eine gelungene Karikatur des "Literarischen Quartetts": vier glotzäugige Plattfische.

"Das literarische Quartett" - Karikatur gezeichnet von Günter Grass. Aus der Ausstellung "Für Marcel" im Jüdischen Museum Frankfurt. Foto: Jürgen Hube
"Das literarische Quartett" - aus der Sicht von GrassBild: Jürgen Hube

Autor als Schützling – und Opfer

Im biographischen Teil der Ausstellung Fotos und Dokumente, darunter wieder Handschriftliches. Ein Brief von Willy Brandt beispielsweise, 1990 zum 70. Geburtstag des Kritikers verfasst. Die Rolle Reich-Ranickis in einem Land, das Kritik - zumindest seit Goethes Verdikt "Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent!" - nicht recht zu schätzen weiß, wird beleuchtet. Und hier lesen wir Erstaunliches aus dem Munde des häufig als unnachsichtig und gnadenlos verschrienen Kritikers. Reich-Ranicki, der Anwalt der Literaten, eine Art Schutzpatron. Originalzitat: "Mein Autor ist mein Klient". Der Autor sei ein Schützling. Ihm habe er zu dienen. Doch bekennt der "Literaturpapst": "Mein Schützling ist auch mein Opfer".

Im Zentrum des Interesses: Marcel Reich-Ranicki bei der Festveranstaltung im Jüdischen Museum Frankfurt. Rechts von ihm Raphael Gross, Museumschef und Hellmuth Karasek, Literaturkritiker. Links: Teofila Reich-Ranicki
Im Zentrum des Interesses: Marcel Reich-Ranicki, Jubilar und StarBild: Jürgen Hube

Leben und Überleben

Das sicherlich ergreifendste Exponat aber stammt von Reich-Ranickis Frau Teofila. Sie schrieb 1941 im Warschauer Ghetto Erich Kästners "Lyrische Hausapotheke" mit der Hand ab, illustrierte die Sammlung, heftete die Blätter mit einem Faden zusammen und schenkte sie ihrem Mann: zum 21. Geburtstag.

Die "Lyrische Hausapotheke", 1941 von Teofila Reich-Ranicki illustriert. Zu sehen in der Ausstellung "Für Marcel" im Jüdischen Museum Frankfurt. Foto: Jürgen Hube
Die "Lyrische Hausapotheke", 1941 von Teofila Reich-Ranicki illustriert.Bild: Jürgen Hube

Damals, so berichtet Reich-Ranicki, habe das Ehepaar darüber nachgedacht, wie lange man wohl noch leben würde: "Noch ein halbes Jahr? Ein Jahr? Es war ein schreckliches Leben. Wir dachten dann, sollten wir es überleben, dann werden wir vielleicht 50, 60 Jahre alt."

Der neunzigjährige Marcel Reich-Ranicki ist im Jüdischen Museum über den Roten Teppich gegangen: Er hat sich die Ausstellung angesehen, er hat die Festreden gehört, die Anekdoten, die Würdigungen. Er hat Ovationen entgegen genommen. Er wird am 6. Juni mit der Ludwig-Börne-Medaille ausgezeichnet. Aber in den Interviews, anlässlich seines Geburtstages, hat er auch zu erkennen gegeben, dass ihm so gar nicht nach Feiern zumute ist. Und so stattet er denn in Frankfurt Dank ab: "Nun habe ich den neunzigsten Geburtstag erlebt und muss sagen: Es war sehr, sehr anstrengend. Aber irgendwie hat es sich gelohnt."

Autorin: Cornelia Rabitz

Redaktion: Conny Paul