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Feiern wie im Mittelalter

5. September 2014

Ein Schluck Met hier, ein Ritterkampf dort: Hunderttausende pilgern Jahr für Jahr zu Mittelaltermärkten und Historienfesten. Doch was reizt die Menschen an dieser Zeitreise?

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Laiendarsteller beim 39. Sehusafest in Seesen
Laiendarsteller beim 39. Sehusafest in SeesenBild: picture-alliance/dpa

Zwei Ritter dreschen aufeinander ein. Die Männer tragen Rüstungen und Lederschutz. Nebenan gibt es Handgedrechseltes, ein Wirt in aufwendigem Wams schenkt Met aus. Ein Spielmannszug zieht vorüber. Klingt nach vergangenen Zeiten. Doch solche Szenen spielen sich jedes Jahr tausendfach in Deutschland ab. Historisch inspirierte Spektakel ziehen Hunderttausende Besucher an.

Eines der größeren Feste findet an diesem Wochenende (6.9./7.9.) im niedersächsischen Seesen statt. An die 40.000 Besucher erwartet Veranstalterin Elisabeth Paetz-Kalich. Viele kämen verkleidet. "Man zieht ein Gewand an und ist in einer anderen Zeit." So erklärt sie den Reiz am Sehusa-Fest. Das erzeuge bei den Besuchern ein Gefühl der Gemütlichkeit. Seit vierzig Jahren organisiert Paetz-Kalich das Historienfest in Seesen. Zu Beginn gab es Skepsis: "Alle haben gesagt, da geht doch keiner hin." Doch Paetz-Kalich hatte den richtigen Riecher.

Nachfrage reißt nicht ab

Rund 5000 Mittelaltermärkte und historische Stadtfeste gebe es jährlich in Deutschland, sagt Henri Bibow. Seine Agentur "Sündenfrei" im sächsischen Torgau organisiert rund 40 davon. Die Nachfrage nach solchen Veranstaltungen wachse stetig. Die Branche mache einen Umsatz von rund einer halben Milliarde Euro, 5000 Einzelunternehmer seien daran beteiligt, schätzt Bibow.

39. Sehusafest in Seesen Niedersachsen
Zum Sehusafest in Seesen am Harz kommen jedes Jahr mehrere zehntausend BesucherBild: picture-alliance/dpa

Bibow hat eine einfache Erklärung für den Erfolg des Konzepts Mittelaltermarkt: Die Konkurrenz schläft. "Die Alternativen, die es in unserem Volksfestwesen gibt, sind sehr übersichtlich." Mittelalterfeste seien "unterhaltsamer und füllender" als gängige Rummel, sagt der Kulturwissenschaftler. Eine eigene Sprache, eine eigene Währung und spezielles Essen - statt Bratwurststand und Radiomoderator auf der Showbühne: So beschreibt Bibow den besonderen Reiz an Mittelaltermärkten.

Zwischen Klaumauk und perfekter Illusion

Doch neben der Unterhaltung gibt es nach Ansicht des Volkskundlers Rolf Wiese von der Universität Hamburg noch eine weitere Komponente. Er glaubt, dass Besucher in eine andere Welt eintauchen wollen. "Der hohe Illusionsgrad ist zeitgemäß", sagt Wiese, der auch Direktor des Freilichtmuseums Kiekeberg südlich von Hamburg ist. "Vielleicht hängt das mit der emotionalen Kälte unserer Zeit zusammen."

Dabei sei die Illusion bei vielen Veranstaltungen gar nicht besonders authentisch. "Ein Großteil der Dinge, die auf Mittelaltermärkten dargestellt werden, ist Klamauk", sagt Wiese. Vereinzelt gebe es aber auch Schaustellergruppen, die sehr genau mit der Geschichte umgehen. "Da stimmt der Knopf an der Kleidung. Manchmal würden sogar
promovierte Historiker Tipps geben.

31. Sehusafest in Seesen Niedersachsen
Originalgetreue Kostüme: Diese Darsteller geben dem Seesener Zentrum einen mittelalterlichen ScheinBild: picture-alliance/dpa

Vor allem bei Familien beliebt

Und die Besucher? Rund drei Viertel seien Familien, die sich einen netten Tag machen wollen, schätzt Agenturchef Bibow. Rund 25 Prozent seien eingefleischte Fans, die auch verkleidet kämen. "Bei denen ist ein bisschen Sehnsucht dabei, ein bisschen Romantik." Auf vielen Mittelalter- und Historienfesten bekommen verkleidete Besucher ermäßigten oder gar freien Eintritt.

Doch geht es bei solchen Festen überhaupt um authentische Geschichte oder nur um Kommerz? Bei der Gastronomie sei Authentizität beispielsweise unmöglich, erwidert Bibow. "Würde mir jedes Hygieneamt in Deutschland sofort schließen." Sehusa-Veranstalterin Paetz-Kalich hält den Kommerz-Vorwurf für falsch: "Das ist Quatsch", sagt die resolute Frau. Doch 40.000 Gäste müssten schließlich bewirtet werden. "Da kann ich nicht sagen: Sitzt da und lutscht Daumen." Kartoffeln und Cola müssten aber draußenbleiben.

Valentin Frimmer (dpa)