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Politik

Flüchtlinge im Wartesaal

Matthias Hannemann
27. Dezember 2017

Das Städtchen Siegburg stand 2015 vor ähnlichen Herausforderungen wie der Rest der Republik. Schnell wurde die Turnhalle freigeräumt, schließlich mussten Hunderte Flüchtlinge untergebracht werden. Und heute?

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Flüchtlingsunterkunft Siegburg
Bild: M. Hannemann

Als der Bürgermeister anrief, in jenem August vor zwei Jahren, befand sich Bernd Lehmann gerade im Urlaub im Süden Europas. Wenig deutete für ihn persönlich auf einen rastlosen Herbst hin. Doch das sollte sich ändern. Tag für Tag trafen damals neue Flüchtlinge in Deutschland ein. Für sie waren eigentlichen die regulären Aufnahmestellen der Bundesländer gedacht, aber die liefen längst über. Die Kommunen mussten für sie einspringen und innerhalb weniger Tage für die Unterbringung von Flüchtlingen gerüstet sein.

So war es auch in Siegburg, einer Stadt im Rheinland mit 40.000-Einwohnern. Die 280 Asylbewerber, die in der unscheinbaren Kreisstadt lebten, teils schon seit geraumer Zeit, hatte man in verschiedenen Wohnungen und einem ehemaligen Bundeswehr-Gebäude untergebracht. Für die nun angekündigten weiteren 150 aber fehlte der Platz. Ob Lehmann es schaffen würde, eine Notunterkunft aus dem Boden zu stampfen? Das war die Frage, die der Bürgermeister damals Bernd Lehmann stellte, seinem Co-Dezernenten für Zentrale Dienste und Bürgerservice.

Am Anfang stand ein "Welcome!"

Lehmann schaffte es, weil er es schaffen wollte - und weil er von vielen Helfern unterstützt wurde. Als die ersten Busse in der Nacht vom 24. auf den 25. August eintrafen, stand für die erschöpften Ankömmlinge nicht nur eine hastig mit Schlafplätzen ausgestattete Turnhalle zur Verfügung, die zu zwei Schulen gehörte. Es gab Dolmetscher, Ärzte und Siegburger, die Reisetaschen und Kleidung gesammelt hatten, Menschen, die den Flüchtlingen auch anderweitig unter die Arme zu greifen versuchten. Und den Bürgermeister, natürlich, der die größtenteils aus Syrien und dem Irak geflohenen Ankömmlingen mit einem "Welcome!" begrüßte.

Bernd Lehmann Siegburg
Bernd Lehmann hat in Siegburg die Ankunft von Flüchtlingen koordiniertBild: M. Hannemann

Unter diesen Umständen konnten bald auch Betten für 110 weitere Menschen aufgestellt werden. Da Siegburg zusätzlich zur "Amtshilfe" für die überforderten Erstaufnahme-Einrichtungen des Landes aber auch reguläre Flüchtlinge zugewiesen bekam, die längerfristig bleiben würden, baute die Stadt außerdem eine ehemalige Schule zur Unterkunft um. Sie kaufte ein leerstehendes Bürogebäude, nahm einen Kredit auf. Baute an drei Standorten neue Gebäude.

"Wie aus heiterem Himmel"

Das war auch dringend vonnöten. Heute ist die Erstaufnahme-Einrichtung in der Turnhalle zwar seit langem geschlossen, und aktuell treffen kaum neue Flüchtlinge in Siegburg ein, weil die Stadt ihre derzeit geltende Quote erfüllt hat. Allerdings liegen die Flüchtlingszahlen auch zwei Jahre nach dem turbulenten Herbst noch deutlich über jenen vor 2015. Im November 2017 waren es 610. Wobei selbst von den 413 Männern, Frauen und Kindern, deren Flüchtlingsstatus bereits anerkannt wurde, bislang nur 250 auf dem privaten Wohnungsmarkt Platz fanden. Der Rest wohnt in Unterkünften der Stadt.

Es ist ein kalter, furchtbar verregneter Tag, an dem Bernd Lehmann im Rathaus von diesen Dingen erzählt. Ein Tag, an dem im Radio wieder einmal von einer "Obergrenze" für Flüchtlinge die Rede ist. Und wiederum einer, an dem Bernd Lehmann überraschend neue Flüchtlinge erhielt. "Wie aus heiterem Himmel", sagt er.

Die Euphorie hat sich gelegt

Sie kommen über den sogenannten "Familiennachzug" nach Siegburg. Lehmann wusste nur, dass sie irgendwann kommen würden, aber nicht, wann. Nun hat er auch sie mit einem Dach über dem Kopf zu versorgen, was wohl erst einmal auf die Unterbringung in einer größen Unterkunft hinauslaufen wird. Lehmann seufzt: Der angespannte Wohnungsmarkt in Siegburg gebe kaum noch was her. Die Zeiten, in denen der Stadt Wohnungen für Flüchtlinge angeboten wurden, seien auch "eher vorbei". Die anfänglich herrschende Euphorie habe sich spürbar gelegt.

Deutschland Geflüchtete Ehrenamt
Freiwillige bei der FlüchtlingshilfeBild: picture alliance/dpa/W. Grubitzsch

"Letzeres darf man nicht falsch verstehen", sagt Lehmann. Es gäbe weiterhin viele Ehrenämtler, die den Flüchtlingen etwa beim Sprach-Erwerb oder Papierkram helfen und Praktika-Plätze organisieren: "Die allgemeine Hilfsbereitschaft ist noch immer recht groß. Die Stimmung hat sich nicht ins Negative gedreht." Wenn manche Ehrenämtler nach zwei Jahren Engagement das Handtuch werfen, hänge das oft nur mit der persönlichen Erschöpfung zusammen.

Ernüchterung auf allen Seiten

Allerdings hätten auch Ereignisse wie die "Kölner Silvesternacht" Spuren hinterlassen. Damals, in der Nacht zum 1. Januar 2016, feierten tausende Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum auf der Domplatte - es kam es sexuellen Übergriffe auf Frauen, und auch der Versuch der Polizei, die Herkunft der Täter nicht zu benennen, und die zögerliche Berichterstattung vieler Medien wurden erregt diskutiert.

Nicht nur der Blick auf die Flüchtlinge hat sich seitdem verändert. Auch viele Flüchtlinge selbst sind ernüchtert. Sie verzweifeln an der deutschen Bürokratie, die sich in der Hochphase der sogenannten "Flüchtlingskrise" kaum als arbeitsfähig erwies, und der langen Zeit, die zwischen der Ankunft in Deutschland und der Behandlung ihrer Asylanträge verstrich. Die meisten von ihnen kamen vor der Verriegelung der "Balkanroute" 2016 und vor dem europäischen Flüchtlingsdeal mit der Türkei ins Land – aber von den 610 Siegburger Flüchtlingen befand sich Anfang 2017 noch ein Drittel in laufenden Verfahren.

Die Kinder: schon zwei Jahre älter

Wer Einspruch gegen negative Entscheidungen einlegte, landete dabei schnell in neuen Warteschleifen. Das gilt ebenfalls für den Versuch, auf den vorübergehend geregelten Aufenthaltsstatus hin auch ihre Frauen und Kinder nach Deutschland zu holen. "Die Familien sind hier auf die Mitarbeit der deutschen Konsulate in der Türkei, Jordanien und im Libanon angewiesen", sagen sowohl die Flüchtlingsberater des katholischen Hilfswerks SKM wie jene der Diakonie. "Aber die Konsulate sind absolut überfordert. Die Wartezeiten können in die Monate gehen."

Das nagt. An einem Syrer zum Beispiel, der mit 90 anderen Flüchtlingen aus den verschiedensten Ländern in einer größeren, sehr schlicht eingerichteten Unterkunft lebt. Für diesen Mann, dessen Familie irgendwo in Jordanien wartet, lief es nach der Flucht 2015 zunächst besser als für manchen anderen: Nach einem Dreivierteljahr hatten die Behörden über seinen Antrag entschieden. Allerdings erhielt er nur den "subsidiären" Schutz, bei dem der Familiennachzug derzeit ausgesetzt ist. Er klagte, musste abermals viele Monate warten, bekam schließlich grünes Licht. Nun wartet der Mann wieder: auf die Familie. "Ist schwer", sagt er in holprigem Deutsch, auf sein Mobiltelefon in der Hand zeigend. "Meine kleinen Kinder sind nun schon zwei Jahre älter geworden." Bislang scheint seine Frau in der Ferne noch nicht mal einen Termin bei der Botschaft bekommen zu haben.

Die Kostenfrage

Dem blassen, müde lächelnden Gesicht dieses Mannes meint man anzusehen, wie schwer ihm das Leben im Wartesaal zusetzt. Er ist nicht der einzige, der gleichzeitig die traumatischen Erinnerungen an die Flucht verarbeiten muss. Eine Tätigkeit, die ihn etwas ablenken würde, hat er nicht, obwohl er theoretisch arbeiten dürfte und arbeiten möchte. Dafür fehlt es ihm, der sich in der Heimat mit den unterschiedlichsten Aushilfsjobs durchschlug, einfach noch an Qualifikation und Sprachkenntnissen.

Pakistanischer Flüchtling als Lehrling in Chemnitz
Arbeit finden ist besonders schwer für FlüchtlingeBild: picture alliance/dpa/J. Woitas

Ein besondere Herausforderungen für Stadt und Helfer, auch emotional, stellen unterdessen diejenigen dar, deren Asylantrag nicht anerkannt wurde - über 150 von ihnen bekamen einen ablehnenden Bescheid, weil sie zum Beispiel aus "sicheren Herkunftsländern" stammen. Sie sind nur geduldet, und bei den noch ungeklärten Fällen dürfte es kaum besser aussehen. Wie geht es mit ihnen weiter? Und wie können die Kosten gedeckt werden, die bei den abgelehnten, aber geduldeten Flüchtlingen allein von den Städten gestemmt werden müssen? Solange sie im Verfahren waren, war das besser geregelt.

Lehmann spricht die Kostenfrage nicht von selbst an. Aber dass die Kommunen ächzen, weil viele von ihnen auch ohne Flüchtlingsproblematik finanziell das Wasser bis zum Hals steht, ist kein Geheimnis. Sein Bürgermeister, der darauf Wert legt, mit den Kosten bislang "gut hingekommen" zu sein, beziffert die Extrakosten der Geduldeten für Siegburg auf Anfrage mit eineinhalb Millionen Euro allein im laufenden Haushalt. Da kommen die finanziellen Anstrengungen, die eine Kommune ohnehin erbringen muss, bei der Bereitstellung von Kindergarten- und Schulplätzen zum Beispiel, und etwaige die Kosten für den sozialen Wohnungsbau noch oben drauf.

Nächster Schritt: Integration

Bernd Lehmann blickt durchs Fenster in den prasselnden Regen. "Wir haben seit dem Sommer auch die ersten Rückführungen. "Erst gestern verabschiedete er sich von einer Familie vom Balkan. "Sie steigen gerade in den Bus in Richtung Heimat, während wir uns unterhalten." Es fällt ihm nicht leicht, davon zu erzählen. "Zu der Familie gehörten schulpflichtige Kinder, die seit zwei Jahren in ihre Klassen gingen und Wurzeln geschlagen hatten." Solche Entscheidungen müssten doch eigentlich viel früher getroffen werden. Manchmal empfindet er den Umgang deutscher Behörden mit Flüchtlingsfamilien als "unmenschlich, so sachlich richtig das Prozedere sein mag".

Aber es ist sind nun einmal nicht die Kommunen, die über die Flüchtlingspolitik entscheiden. Für viele Flüchtlinge, die vor zwei Jahren nach Siegburg kamen und jetzt wissen, dass sie vorerst im Land bleiben dürfen, hat derweil eine neue Phase begonnen: die der gesellschaftlichen Integration, bei der es noch einmal auf ganz andere Dinge ankommt als nur ein Dach über dem Kopf, erste Sprachstunden oder Hilfe beim Amtsbesuch. Die Stolpersteine sieht Lehmann durchaus, aber er bleibt zuversichtlich. Die Flüchtlinge würden der Stadtgesellschaft nicht zuletzt helfen, auch diejenigen zu unterstützen, die als Flüchtlinge noch kommen werden.