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Flüchtlingskrise als Propagandainstrument?

Roman Goncharenko18. Januar 2016

Das russische Fernsehen berichtet über die angebliche Vergewaltigung eines deutschrussischen Mädchens durch Migranten in Berlin. Die Polizei dementiert. Die Geschichte erinnert an Propaganda aus dem Ukrainekonflikt.

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Satellitenschüsseln an einem Hochhaus. Foto: DAVID GANNON /AFP/Getty Images
Bild: AFP/Getty Images

Es ist eine haarsträubende Geschichte, die der staatliche russische Fernsehsender "Erster Kanal" seinen Zuschauern in den Hauptnachrichten am Samstagabend präsentierte. Ein 13-jähriges Mädchen mit russischen Wurzeln soll von Migranten in Berlin in einem Auto gekidnappt, in eine Wohnung gebracht und dort einen Tag lang vergewaltigt worden sein. Eine Frau, die in dem Beitrag als "Tante" des Opfers vorgestellt wird, erzählt grausige Details. Weder die Eltern, noch das Mädchen kommen selber zu Wort. Dafür aber mehrere offenbar in Berlin lebende Russen, die ihrem Ärger Luft machen. "Wenn es so ist, werden wir auf Gewalt mit Gewalt antworten“, droht ein Mann. Ein anderer, der als "Onkel" des Opfers bezeichnet wird, behauptet, die Polizei würde die Verbrecher decken.

Die Berliner Polizei dementierte bereits am Wochenende gegenüber der DW die Darstellung in russischen Medien. Es habe weder eine Entführung, noch eine Vergewaltigung gegeben, sagte eine Polizeisprecherin. Am Montag bestätigte die Polizei nochmals das Dementi. Ein Mädchen sei Anfang vergangener Woche im Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf kurzfristig als vermisst gemeldet worden, sei aber später aufgetaucht, heißt es in einer Pressemittelung.

Frau kauert ängstlich in einer Ecke - im Bildvordergrund die geballte Faust eines Mannes. Foto: DW, Miriam Dörr
Gewaltgeschichte erfunden ?Bild: Fotolia/Miriam Dörr

Nachrichten auch ohne Recherche?

Als Quelle für seinen Bericht nannte das russische Fernsehen ein kaum bekanntes Internetportal "Genosse.su", das sich selbst als "Seite sowjetischer Deutscher" beschreibt. Die Seite widmet sich vor allem dem Leben der Russlanddeutschen und vertritt den in Berlin ansässigen Verein "Internationaler Konvent der Russlanddeutschen“. Der Verein kündigte für den 23. Januar auch seine Unterstützung für die Protestkundgebung "einiger Russlanddeutschen" an. Man wolle vor dem Bundeskanzleramt "gegen Gewalt" demonstrieren.

Solche Nachrichten fallen bei manchen Russen offenbar auf fruchtbaren Boden. Das Thema wird in sozialen Netzwerken heiß diskutiert. Seit Monaten berichten russische Medien ausführlich über die Flüchtlingskrise in Deutschland und malen ein düsteres, apokalyptisches Bild. Als bekannt wurde, dass Flüchtlinge auch an sexuellen Übergriffen gegen Frauen in der Silvesternacht in Köln beteiligt gewesen sein sollen, wurde das als Bestätigung der Befürchtungen präsentiert. Viele Experten in Russland sehen Deutschland und Europa dem Untergang geweiht.

Auch die je nach Schätzung vier bis sechs Millionen Menschen mit russischen oder sowjetischen Wurzeln, die in Deutschland leben, schauen russisches Fernsehen. Wissenschaftliche Studien über ihre Stimmung gegenüber Flüchtlingen gibt es bisher nicht. Fakt ist, dass besonders nach den Ereignissen in Köln manche Russen aus Deutschland in Blogs gegen Migranten Stimmung machen. Der in Berlin lebende Schriftsteller Wladimir Kaminer glaubt jedoch nicht, dass Russen in Deutschland Migranten besonders kritisch gegenüber stünden. "Ja, Russen in Deutschland schauen russisches Fernsehen“, sagte der gebürtige Russe der DW. "Aber sie haben immer eine Alternative – auf die Straße zu schauen oder zu hören, was deutsche Medien berichten“.

Fachgesprächsrunde der Heinrich Böll Stiftung unter dem Titel: Russische Desinformation im 21. Jahrhundert. Foto: DW, Nikita Jolver in Berlin am 25.06.2015
Die Berichterstattung in Russland ist immer wieder Gegenstand von Fachgesprächen - hier am 25. Juni 2015 in der Heinrich Böll Stiftung unter dem Titel: "Russische Desinformation im 21. Jahrhundert"Bild: DW/N. Jolver

Nachrichten als Spielfilm

Der Beitrag im TV-Sender "Erster Kanal" über die angebliche Vergewaltigung in Berlin erinnert an mehrere Meldungen russischer Medien im Ukrainekonflikt, die entweder komplett oder teilweise falsch waren. Das prominenteste Beispiel ist die Geschichte über den sogenannten "gekreuzigten Jungen“. Da hieß es in einem Beitrag des Senders "Erster Kanal" im Juli 2014, ukrainische Soldaten hätten in der ostukrainischen Stadt Slowjansk einen dreijährigen Jungen "wie Jesus" auf ein Brett festgenagelt. Später gab der Sender zu, diese Geschichte einer "Augenzeugin" nicht überprüft zu haben. Eine Entschuldigung gab es nicht.

Der in London lebende Publizist und Medienexperte Peter Pomerantsev glaubt, der TV-Sender "Erster Kanal" mache keine Nachrichten im westlichen Sinne. "Ich glaube nicht, dass sich "Erster Kanal" besonders für Fakten interessiert“, sagte Pomerantsev der DW. "Das, was die Russen machen, ist näher zum Genre eines Spielfilms, das ist so eine Art Kino“. Das Hauptthema dieses Kinos sei "das Ende Europas": "Das ist ein sehr wichtiges Thema, denn die Macht vom (russischen Präsidenten Wladimir) Putin stützt sich auf die Idee der Alternativlosigkeit: Bei uns ist es schlecht, aber schlecht ist es überall“.

Pomerantsev glaubt, dass sich solche Meldungen wie über das Mädchen in Berlin vor allem an das Publikum in Russland richten, mit dem Ziel, Europa unattraktiv erscheinen zu lassen. Ähnlich sieht es Wladimir Kaminer in Berlin. "Ich glaube, diese Nachricht des russischen Fernsehens war in erster Linie für den internen Gebrauch gedacht, um den Bürgern die "Schrecken" des Lebens in Europa darzustellen", so der Russe. "Die schlimmsten deutschen Nachrichten erfahren wir immer aus Russland“, ironisiert Kaminer.