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Flucht nach vorne

Rainer Sollich11. Dezember 2002

Die Türkei fürchtet von der EU endgültig aufs Abstellgleis geschoben zu werden. Die Widerstände in den EU-Staaten sind groß, die Liste der Bedenken ist lang. Doch die türkische Regierung will endlich eine Entscheidung.

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Ortakoy Moschee am Bosporus, IstanbulBild: AP

Niemals, so betonen türkische Politiker immer wieder, würden sie eine "Sonderbeziehung" ihres Landes zur Europäischen Union akzeptieren. Es müsse schon die echte Vollmitgliedschaft sein. Zwar nicht jetzt, aber später. Und das heißt natürlich: so schnell wie möglich. Denn wenn jetzt die
große EU-Erweiterung anläuft und Ankara nicht in irgendeiner Form mit an Bord ist, dann wissen die Türken: Sie könnten bei diesem Prozess ganz schnell auf der Strecke bleiben.

Lange Mängelliste


Die Türkei ist das einzige Land, das seit 1999 zwar offizieller Beitrittskandidat ist, mit dem die EU aber noch keine offiziellen Beitrittsverhandlungen führt. Die Gründe für die Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts sind vielfältig: Die Deutschen zum Beispiel fürchten eine verstärkte Zuwanderung von Türken auf ihren ohnehin überlasteten Arbeitsmarkt. Andere argumentieren, die Türkei mit ihrer muslimischen Bevölkerung passe kulturell und religiös nicht nach Europa. Und ein weiteres Argument lautet, der NATO-Partner am Bosporus sei schlichtweg zu groß, um in die europäische Staatenfamilie integriert zu werden.

Vor diesem Hintergrund tritt Ankara die Flucht nach vorne an und will auf dem Kopenhagener EU-Gipfel endlich ein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt bekommen. Oder zumindest ein Datum, an dem verbindlich über die Aufnahme von Verhandlungen entschieden wird. Ob Brüssel hier einwilligen wird, ist allerdings ungewiss. Einige EU-Mitgliedsstaaten sind dagegen. Und selbst EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen, der zu
den Befürwortern eines türkischen EU-Beitritts zählt, erklärte Anfang Oktober, dass derzeit keine Verhandlungen aufgenommen werden könnten. "Der Grundsatz heißt: Wir verhandeln mit Ländern nur dann über die Aufnahme in die Europäische Union, wenn die politischen Bedingungen vollständig erfüllt sind - also Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, vollständige Achtung der Menschenrechte," so Verheugen.

Ankara legt sich ins Zeug

Genau in diesen Punkten holt Ankara aber immer mehr auf. So wurde die Todestrafe, zumindest in Friedenszeiten, abgeschafft. Und neuerdings sind - wenngleich unter strengen Auflagen - erstmals auch Radio- und Fernsehprogramme in kurdischer Sprache erlaubt. Hinzu kommt, dass die Türkei seit Anfang November eine neue Regierung hat, geführt allein von den Reform-Islamisten der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Und anders als viele Europäer erwartet hatten, sind es ausgerechnet die einst besonders europa-kritischen Islamisten, die nun - wenigstens verbal - einen besonderen Reformeifer an den Tag legen. Sie
sind, im Vergleich zu früheren Regierungen, kompromissbereiter in Sachen Zypern. AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan versprach Mitte November, die Türkei für einen späteren EU-Beitritt reif zu machen. Die Folter solle abgeschafft und der Strafvollzug verbessert werden. "Wir werden die Grundrechte und -freiheiten mittels Verordnungen schleunigst an europäische Standards anpassen, und zwar
innerhalb eines Monats", so Erdogan.

Aber wird dies die Europäer überzeugen? Einigkeit herrscht innerhalb der EU zumindest darüber, dass von dem Kopenhagener Gipfel ein ermutigendes Signal für Ankara ausgehen soll. Darauf drängen hinter den Kulissen auch die USA, die andernfalls ein langsames Abdriften der Türkei aus der westlichen Staatenwelt befürchten. In Kopenhagen dürfte also zumindest hervorgehoben werden, dass die Türkei, die sich seit der Staatsgründung durch Kemal Atatürk 1923 als europäisches Land versteht und seit Anfang der 60-er Jahre fest mit der EU (damals EWG) assoziiert ist, ernsthafter Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft bleibt.