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Fluktuation am Arbeitsmarkt

Rachel Gessat23. Juli 2012

Massenentlassungen und Insolvenzen - die Negativ-Schlagzeilen aus der Wirtschaft passen ins Bild der allgemeinen Krise. Doch ist das deutsche Jobwunder wirklich schon am Ende?

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Mitarbeiter von Karstadt demonstrieren gegen Jobabbau Foto: dpa (Roland Weihrauch)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Pleite der Drogeriekette Schlecker mit 25.000 entlassenen Mitarbeiterinnen ist noch nicht aus der Presse verschwunden, da tauchen schon die nächsten Hiobsbotschaften auf: Der traditionelle Versandhändler Neckermann meldete Insolvenz an. Die Warenhauskette Karstadt hat angekündigt, 2000 Stellen zu streichen, die Deutsche Bank gar 9000 Stellen.

Während Pleiten und Massenentlassungen in den Medien ausführlich dargestellt werden, sind Neugründungen und Einstellungen seltener im Fokus der Öffentlichkeit. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) befragt regelmäßig Unternehmen nach geplanten Entlassungen und Neueinstellungen. Der Chefvolkswirt der DIHK, Alexander Schumann, sieht die Lage auf dem Arbeitsmarkt gelassen. "Wirtschaft ist immer eine dynamische Angelegenheit: Tagtäglich verschwinden in Deutschland 20.000 Arbeitsplätze, aber gleichzeitig werden in normalen konjunkturellen Lagen auch mehr als diese 20.000 wieder neu geschaffen", sagt Schumann im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Portrait Dr. Alexander Schuman, Leiter des Bereichs Wirtschaftspolitik, Mittelstand, Innovation beim DIHK - (Foto: DIHK | Deutscher Industrie- und Handelskammertag e. V.)
Alexander Schumann: "Wirtschaft ist eine dynamische Angelegenheit"Bild: DIHK

Wird der deutsche Arbeitsmarkt "schöngerechnet"?Diese positive Beurteilung vermag Dierk Hirschel, Ökonom bei der Gewerkschaft Verdi, nicht  zu teilen: "Wir haben deutlich mehr Arbeitssuchende als Stellenangebote. Die offizielle Arbeitslosenstatistik gibt nicht die wahre Situation wider."

Portraitfoto Dierk Hirschel (Verdi) (Foto: dpa / Karlheinz Schindler)
Dierk Hirschel: "Die Arbeitslosenstatistik ist geschönt"Bild: picture-alliance/ZB

Viele Arbeitslose wären gar nicht erfasst, ältere Arbeitslose würden oft aus der Statistik herausgerechnet, ebenso Arbeitslose, die gerade an einer Umschulung oder Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen. Dazu kämen noch die vielen 1-Euro-Jobber, sagt Hirschel.

Eine Einschätzung, die auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) teilweise unterstützt. Vor allem durch den Teilzeit- und Minijob-Bereich gäbe es eine versteckte Unterbeschäftigung, sagt etwa Karl Brenke vom DIW. Hier arbeiteten viele Menschen, die eigentlich auf der Suche nach einer Vollzeitstelle seien.

Unterschiedliche Gründe für Bewerbermangel

Vollzeitkräfte werden von einigen Branchen aber auch dringend gesucht - im Bereich der Fachkräfte, im Handwerk aber auch in der Kranken- und Altenpflege. Bereiche, die Arbeitsplätze mit recht unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen anbieten.

"Der Mangel im Pflegebereich ist hausgemacht", urteilt Dierk Hirschel von Verdi. "Das ist in erster Linie eine Frage des Versagens der dort tätigen Unternehmen und der Politik, weil dort einfach zu niedrige Löhne gezahlt werden, die Arbeitsbedingungen katastrophal sind und vor dem Hintergrund sich niemand für den Job interessiert."

Der Arbeitskräftemangel in der Computer- und IT-Branche lässt sich dagegen mit den Gehalts- und Arbeitsbedingungen nicht erklären - die dort gezahlten Löhne sind eher überdurchschnittlich. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien (Bitkom), beklagt ein gewisses Imageproblem der Branche: "Wenn man an IT denkt, dann denkt man an durchgearbeitete Nächte mit Pizza und Cola. Aber die Branche ist ganz anders. Wir haben sehr innovative Arbeitszeitmodelle, bei uns kann man Familienleben und Karriere besser als in fast jeder anderen Branche zusammenbringen."

Netzwerkkabel (Foto: dpa /Arno Burgi)
Informationstechnologie ist weiter ein rasanter WachstumsmarktBild: picture-alliance/ZB

Man arbeite aber intensiv daran, neue Mitarbeiter zu gewinnen und Nachwuchs für informationstechnische Berufe zu begeistern, sagt Bernhard Rohleder zur DW: "Wir müssen die jungen Leute erreichen, aber bis die zur Verfügung stehen, vergehen zehn bis 15 Jahre. Insofern ist es sehr wichtig, auch ältere Mitarbeiter weiter zu qualifizieren und es muss uns gelingen, mehr Frauen zu gewinnen."

Der Fachkräftemangel – ein Märchen?

Die Wirtschaft suche aktiv potenzielle Bewerber, bestätigt auch Alexander Schumann von der DIHK: "Die Wirtschaft macht da schon ganz viel. Der Fachkräftemangel ist ein Risiko für Unternehmen, sie bilden stärker aus als früher. Der Wettbewerb um gute Bewerber nimmt zu, sie wollen mehr weiterbilden, sie wollen ältere Arbeitnehmer länger halten."

Ob es in Deutschland einen generellen Fachkräftemangel gibt, darüber gehen die Einschätzungen weit auseinander. Während der Verein Deutscher Ingenieure (VDI), einen "enormen Ersatzbedarf" beklagt, schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung die Lage anders ein: "Der gegenwärtige Run auf ingenieurwissenschaftliche Studienplätze lässt eher ein Überangebot an solchen Fachkräften erwarten“, sagt etwa Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte vom DIW.

Schild mit der Aufschrift: Ingenieure gesucht (Foto: DOC RABE Media)
Der Bedarf an Ingenieuren wird unterschiedlich eingeschätztBild: DOC RABE Media / Fotolia

Verdi-Vertreter Dierk Hirschel vermutet gar eine bewusste Fehlinformation der Öffentlichkeit: "Wir gehen davon aus, dass das partielle Klagen über Fachkräftemangel interessengeleitet ist. Es geht darum, über billige Arbeitskräfte aus dem Ausland das allgemeine Lohnniveau in der Branche abzusenken und das ist eine ziemlich durchschaubare Strategie."

Theorie und Praxis klaffen auseinander

Einig sind sich dagegen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter, dass auch ein rechnerisches Gleichgewicht von offenen Stellen und Bewerbern in der Praxis nicht zur Vollbeschäftigung führt. Tendenziell gilt: Je niedriger die Berufsqualifikation und die Mobilität,  je älter der Bewerber und je schwieriger die familiäre Situation – etwa bei Alleinerziehenden - desto problematischer gestaltet sich die Arbeitsplatzsuche.

Dazu passt die Meldung, dass von den rund 15.000 Schlecker-Mitarbeiterinnen, die sich bislang arbeitslos gemeldet haben, nur ein Fünftel wieder einen neuen Job gefunden hat. Eine Ex-Schlecker-Mitarbeiterin aus der Pfalz wählte einen originellen Weg: die 43-jährige Frau machte sich selbstständig und eröffnete in ihrem Heimatort Maikammer ihre eigene Drogerie.