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Frust in der Studentenbude: "Wir werden vergessen"

Marie Sina
24. Juli 2021

Kneipen, Clubs und Büros öffnen die Türen, aber Hörsäle bleiben weiterhin geschlossen. Studierende bangen um ihre Bildung und fühlen sich übergangen.

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seitlicher Blick auf eine junge Frau, die ihr Gesicht in ihren Arme verbirgt, die auf ihrem Schreibtisch liegen
Bild: picture-alliance/dpa/C. Klose

Zwei Schritte vom Bett zum Schreibtisch, jeden Tag für 18 Monate. Seit Anfang der Pandemie ist das Çınar Alpdündars Weg zu seinen Mathematik-Vorlesungen an der Universität Bonn.

Wie so viele Studierende sitzt der 20-jährige Türke seit drei Semestern an seinem Laptop in einem spartanischen WG-Zimmer. Während Büros, Restaurants und Kneipen sich wieder füllen, haben drei Millionen Studierende in Deutschland nur vage Aussichten auf eine Rückkehr in die Hörsäle.

"Ich habe einfach keine Motivation mehr. Ich liebe Mathe. Seitdem ich 16 bin, ist es das, was ich am meisten liebe. Aber inzwischen gibt es Momente, in denen will ich einfach aufhören," sagt Çınar der DW.

Ein junger Mann mit schulterlangen Haaren und Brille lächelt in die Kamera, er steht unter Bäumen
Çınar Mustafa Alpdündars Noten leiden stark unter der virtuellen LehreBild: privat

Seine Frustration spricht für viele Studierende in Deutschland, die sich um ihre Ausbildung sorgen und darum, dass ihre Situation in Vergessenheit gerät.

Das Verständnis und die Noten leiden

Erste Umfragen liefern ein kritisches Bild von der virtuellen Lehre der letzten 18 Monate. Laut einer Studie der Universität Trier aus dem Jahr 2021 machen sich 60 Prozent der befragten Studenten mehr Sorgen um ihren Studienerfolg. Knappe 70 Prozent geben an, sich nicht konzentrieren zu können.

Für Çınar haben die leeren Hörsäle der letzten Semester eine klaffende Lücke zwischen seinem Selbstbild und seinen Studienleistungen entstehen lassen. Vor der Pandemie war er ein Einser-Student. Eine Frage zu seinen jetzigen Noten erwidert er nur mit einem Kopfschütteln: "In virtuellen Vorlesungen und Seminaren stelle ich viel weniger Fragen. In Präsenz kann man einfach nebenbei nachfragen. Online wird das zu einer großen Sache: Man muss das Mikrofon anschalten und alle hören zu."

Raquel Capella kommt aus Rio de Janeiro und ist letzten Oktober für ihren Master in Umweltwissenschaften nach Landau gezogen. Seitdem war sie erst ein paar mal auf dem Campus ihrer Universität. "Wenn meine Freundinnen mich fragen, wie das Forschen an meiner Universität ist, antworte ich immer: keine Ahnung", sagt sie der DW. Sie habe das Gefühl, dass sie ohne den Kontakt zu den Lehrenden etwas verpasse.

Çınars und Raquels Lernerfahrung in der Pandemie entsprechen den Beobachtungen von Stefan Grundmann, Professor für Jura an der Humboldt-Universität Berlin: "Die 50 Prozent der Studierenden, die leistungsstark sind, aber nicht zu den fünf Prozent der Überflieger gehören, profitieren am meisten vom Präsenzunterricht," sagt er der DW. Die Mehrheit der Studierenden brauche den lebendigen Diskurs, der sich in Präsenz entwickelt, um den Inhalt wirklich zu verstehen.

Pandemie zerstört Zukunftsträume von Jugendlichen

Gemeinsam betrinken ja, büffeln nein

Das Sommersemester war für viele Studierende ein emotionaler Umschwung: Die Hoffnungen auf Präsenzlehre waren groß, die Enttäuschung über geschlossene Hörsäle umso größer. Während sich in Wirtshäusern bis zu zehn Personen pro Tisch betrinken könnten, müsse man in der Universität anderthalb Meter Abstand zu anderen Studierenden wahren, beklagt Jakob Hofer, Student der Technischen Universität München (TUM), in einem offenen Brief an die Hochschulleitung.

Çınar findet, Studierende seien in den Öffnungsplänen in Deutschland übersehen worden: "Niemand spricht über uns. Die Debatte dreht sich um die Öffnung der Schulen und Unterstützung für Familien und ältere Menschen. Ich habe das Gefühl, wir werden von der Politik vergessen."

Dass Hochschulen anders als Schulen nicht im Mittelpunkt der Öffnungsdiskussion stehen, ist nach Ansicht von Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, eigentlich positiv zu bewerten. Zu beobachten war: Hochschulen haben den Wechsel zur Online-Lehre technisch leichter bewältigt als Schulen. Ein weiteres Online-Semester war entsprechend leicht umzusetzen, ohne großen Diskussionsbedarf.

Junge Menschen sitzen auf einer Wiese vor dem schloßähnlichen gelben Hauptgebäude der Universität Bonn
Universität Bonn vor der Pandemie: Besonders internationale Studierende leiden darunter, dass weniger zwanglose Begegnungen möglich sindBild: picture-alliance/imageBROKER/S. Ziese

Gleichzeitig sind virtuelle Vorlesungen aber auch für Alt keine permanente Lösung: "Ich erkenne die Klage der Studierenden an, dass ihre soziale Situation nicht gesehen worden ist", sagt er der DW: "Etwas mehr Empathie auch von der politischen Seite wäre für sie sehr hilfreich gewesen."

Internationale Studierende sind doppelt isoliert

Die etwa 320.000 Studierenden, die für das Studium nach Deutschland gezogen sind, trifft es doppelt schwer. Virtuelle Vorlesungen bedeuten für sie nicht nur akademische, sondern auch kulturelle Isolation.

Als Raquel Capella letzten Oktober in Landau ankam, rollte sie ihre Koffer in ein fast verlassenes Studentenwohnheim. "Die meisten deutschen Studenten sind einfach Zuhause geblieben,” sagt sie.

Çınar Alpdündar möchte gerne langfristig in Deutschland bleiben, aber allein in seinem WG-Zimmer kann er kaum Fuß fassen: "Es ist sehr einsam. Ohne Vorlesungen, ohne Bibliothek, habe ich wenige soziale Kontakte. Dadurch hat sich mein Deutsch verschlechtert."

Viele junge Menschen haben sich während der Pandemie komplett gegen ein Studium in Deutschland entschieden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts kamen im Sommersemester 2020 fast 30 Prozent weniger Studieninteressierte aus dem Ausland nach Deutschland.

Wie viele Hochschulen versucht auch die Universität Bonn, internationale Studierende gezielt zu unterstützen, beispielsweise durch Sprachcafés - einen virtuellen Kaffeklatsch zum Deutschlernen. Für einen Kaffee vor dem Bildschirm fehlt Çınar und seinen Kommilitonen jedoch am Ende des Tages meistens die Ausdauer. Sie würden lieber bald gemeinsam einen Kaffee in dem Barockbau trinken, in dem die mathematische Fakultät untergebracht ist.

Hoffnung auf die Öffnung im Herbst

"Die Hochschulen waren lange genug geschlossen. Sie müssen jetzt aufmachen.” Peter-André Alt ist optimistisch, dass Studierende zum Anfang des kommenden Wintersemesters im Oktober in ihre Universitätsgebäude zurückkehren können. Die meisten Hochschulen arbeiten bereits an Öffnungskonzepten. Offizielle Ankündigungen hat es bisher jedoch kaum gegeben.

Ein Professor steht vor einer Kamera in einem Hörsaal
Besonders kleineren Hochschulen fehlt die technische Ausstattung für hybride Lehrformate, die in Präsenz stattfinden und gleichzeitig live-gestreamt werdenBild: Uwe Anspach/dpa/picture-alliance

Nach bisherigen Plänen sollen kleinere Veranstaltungen und Seminare ab Oktober wieder stattfinden, solange Studierende genesen, geimpft, oder getestet sind, und alle die Abstands- und Masken-Regeln einhalten. Hörsäle werden jedoch wegen Platzmangels weiterhin geschlossen bleiben. Hybride Lehrformate, die für Geimpfte in Präsenz und für Nichtgeimpfte virtuell stattfänden, seien nur für gut ausgestattete, in der Regel größere Hochschulen möglich, sagt Alt.

Trotz optimistischer Planung steigen mit der Infektionsrate die Zweifel an einer baldigen Rückkehr in die Universitätsgebäude. Für Juraprofessor Stefan Grundmann ist dieser Gedanke besorgniserregend: "Das würde bedeuten, wir hätten einen dritten Jahrgang, der die Grundausbildung nicht in Präsenz gelernt hat."