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Frustration zum Jahrestag der Gezi-Proteste

Senada Sokollu, Istanbul 26. Mai 2014

Am 28. Mai 2013 stellten Umweltschützer im Istanbuler Gezi-Park Protestzelte auf. Bald wurde landesweit gegen die Regierung demonstriert. Ein Jahr später beklagen Aktivisten, dass sich nichts verbessert habe.

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Mehrere stehende Menschen am Taksim-Platz in Istanbul im Juni 2013 (Foto: AFP)
Stiller Protest in Istanbul (2013)Bild: MARCO LONGARI/AFP/Getty Images

Für den türkischen Künstler Erdem Güngüz ist der erste Jahrestag des Beginns der Gezi-Proteste kein Grund zum Feiern. Vor fast einem Jahr stand er stundenlang völlig regungslos auf dem Taksim-Platz, den Blick auf das Porträt des Gründers der Türkischen Republik, Kemal Mustafa Atatürk gerichtet. Güngüz demonstrierte schweigend gegen die brutale Polizeigewalt während der Gezi-Park-Proteste. Tausende von Menschen machten es ihm nach. Als "Stehender Mann" wurde er zu einer Ikone der Protestbewegung.

Heute beherrsche die türkische Regierung immer noch alles - "die Medien, die Justiz und den Polizeiapparat", so der 34-jährige im DW-Gespräch. Die Polizei würde immer noch brutale Gewalt anwenden: "Wenn zehn Demonstranten auf die Straße gehen, dann stehen da gleich 60 Polizisten und ein Wasserwerfer. Wir haben nichts gewonnen durch die Demonstrationen. Es gibt keinen Fortschritt. Die Medien sind immer noch nicht frei und unabhängig. Wir befinden uns in der gleichen Situation wie vor einem Jahr, wenn nicht noch schlimmer." Gündüz verweist auf das verheerende Minenunglück in Soma, bei dem erst kürzlich mehr als 300 Bergarbeiter ums Leben gekommen sind. Damit der Jahrestag irgendeinen Sinn habe, sollten die Menschen zu den Gräbern der Opfer von Soma gehen.

Soziale Netzwerke wichtiger denn je

Die eingeschränkte Pressefreiheit stand im vergangenen Jahr im Fokus der Massenproteste. Während die türkischen Medien anfangs kaum über die Gezi-Park-Bewegung berichteten, herrschte in Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter ein regelrechter Ausnahmezustand. Millionen von wütenden Bürgern nutzten das Internet als alternatives Sprachrohr. Videos und Fotos wurden im Sekundentakt hochgeladen und verbreitet. Aufnahmen von festgenommenen und verprügelten Journalisten machten die Runde - so auch ein Video, das zeigt, wie der Journalist Gökhan Bicici von vier Polizisten getreten wird. "Die Anteilnahme in den Sozialen Netzwerken hat mich gerührt", sagt er heute.

Erdem Gunduz, türkischer Tänzer und Choreograph (Foto: DW)
Ikone der Protestbewegung: Erdem GüngüzBild: DW/Susanne Lenz-Gleißner

Das Internet sei zu einem messerscharfen Instrument der Gesellschaft geworden, so der Journalist im DW-Gespräch. "Es war das einzige Mittel, um die Zensur zu überwinden. Die Regierung empfindet die Sozialen Netzwerke auch heute noch als Gefahr." Deswegen seien Twitter und YouTube gesperrt worden, so der 35-Jährige. Seit den Gezi-Protesten seien sehr viele journalistische Projekte im Internet entstanden. Bicici hat in diesem Jahr die Nachrichtenagentur "Dokuz8haber" gegründet, die verschiedene Soziale Netzwerke miteinander verbindet. "Das Interesse der Menschen wächst von Tag zu Tag", so der Journalist.

Hoffnung auf die Zivilgesellschaft

Doch gerade wegen der Gezi-Proteste sei der Regierungsstil in Ankara autoritärer geworden, kritisiert der Politologe und Kolumnist Cengiz Aktar, der unter anderem am Istanbul Policy Center (IPC) arbeitet. Die Massendemonstrationen seien die erste große Herausforderung für Premierminister Recep Tayyip Erdogan gewesen. "Er hat keine Angst vor den Oppositionsparteien, sondern er fürchtet die Macht der Straße und der Proteste", so Aktar im DW-Gespräch. Der Politologe betont zudem, dass es in der Türkei auch ein Jahr nach den Protesten immer noch keine nennenswerte politische Alternative zur islamisch-konservativen Regierungspartei AKP gebe. Nach den Erfolgen von Erdogans Partei bei den Kommunalwahlen könnten Außenstehende zwar meinen, die Proteste hätten nichts gebracht, so Aktar. "Doch die Demonstrationen waren ein Wendepunkt für die Psychologie der Menschen. Die Angst davor, seine Meinung offen zu äußern, ist nun kleiner."

Jugendliche mit einer türkischen Fahne im Sommer 2013 in Istanbul, gegen die die Polizei Wasserwerfer einsetzt (Foto: Reuters)
Junge Demonstranten im Kampf gegen Tränengas und Wasserwerfer (2013)Bild: Reuters

Durch die Gezi-Park-Proteste sei "eine mutige und dynamische Zivilgesellschaft entstanden", meint auch Journalist Bicici. "Gerade das harte Auftreten der Regierung ist ein Beweis dafür." Doch man dürfe nicht vergessen, dass die Macht einer Regierung immer zeitlich begrenzt sei - anders als nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen, die sich auch langfristig auswirken könnten. "Die Zivilgesellschaft ist die Zukunft der Türkei": Davon ist Bicici überzeugt - weil die Proteste eine neue Dynamik in der türkischen Gesellschaft ausgelöst hätten.

Die Taksim-Solidaritätsplattform - die seit Beginn der Demonstrationen zu den wichtigsten Vertretern der Protestbewegung gehört - ruft zu einer Versammlung am Taksim-Platz in Istanbul und in anderen Städten der Türkei am Samstag (31.05.2014) auf. Im Mittelpunkt steht der Wunsch nach mehr Demokratie, Menschenrechten und Umweltschutz - aber auch die Erinnerung an die Toten der Gezi-Park-Proteste und an die über 300 Arbeiter, die beim Bergbauunglück in Soma gestorben sind.