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Politik

Isolation in der globalisierten Welt

Alexander Görlach
17. März 2020

Die Coronakrise wirft immer mehr Fragen auf. Obwohl die Krankheit unterschiedslos alle trifft, grenzen wir uns voneinander ab. Aber was macht die Isolation mit uns? Wir brauchen einen Ausweg, meint Alexander Görlach.

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DW Zitattafel | Prof. Dr. Alexander Görlach - Exil
Bild: DW

Wir erleben gerade zwei massive Krisen zur selben Zeit: die Corona-Pandemie und - aus ihr resultierend - eine globale Wirtschafts- und Finanzkrise. Es ist zu lesen, dass diese zweite Krise massivere und langwierigere Auswirkungen haben soll, als die COVID-19-Krankheit, die schon jetzt mehrere tausend Todesopfer gefordert hat und noch viele weitere fordern wird.

Es ist wenig sinnvoll, Krisen gegeneinander aufzuwiegen, gar Menschenleben und Unternehmenspleiten miteinander zu verrechnen. Gleichwohl haben diese beiden Krisen einen tiefen inneren Zusammenhang, der über eine Korrelation von Ursache und Wirkung hinausgeht: Es muss nun wirklich jedem Menschen klar geworden sein, wie eng verflochten die Welt heute miteinander ist. 

Eine Pandemie ist farbenblind

Diese Feststellung, die so selbstverständlich klingt und die es gerade wegen ihrer vagen Allgemeinverbindlichkeit schwer hat, sich gegen Angreifer zu behaupten, hat nun weitere stützende Belege an die Hand bekommen. Eine Pandemie kennt keine Landesgrenzen, keine Hautfarben. Sie ist farbenblind und hat keine Vorliebe für eine bestimmte Religion, Kultur oder Sprache.

China Wuhan provisorisches Krankenhaus
Als China Anfang Februar Notkliniken einrichtete, nahm in Europa noch niemand die Gefahr ernstBild: picture-alliance/dpa/XinHua/Xiong Qi

Wer sich noch vor wenigen Wochen in rassistischer Manier über die Chinesen erhob, sieht nun, dass das Virus außerhalb Chinas und dort am heftigsten in Italien, dem Iran und Südkorea grassiert. Unterschiedlicher könnten die genannten Länder nicht sein. Die Erfahrungen und die Verarbeitung dieser jetzigen Krise mag vielleicht sogar das erste sein, was diese Länder und ihre Menschen auf lange Sicht überhaupt miteinander teilen.

Wir bleiben in einer solchen existenziellen Situation aufeinander geworfen, miteinander verbunden. Mit der engmaschig verdrahteten, globalisierten Welt mit ihren Handelsstraßen und Verkehrsrouten korrespondiert ein weiteres Netzwerk - das der menschlichen Zugehörigkeit und Verbundenheit.

Die dritte Krise

Und an diesem Punkt mag eine dritte Krise heraufziehen, die mit den beiden anderen aufs Intimste verbunden ist: Durch die "soziale Distanzierung", durch das Zurückziehen in das Private, durch das Meiden von Kontakten und die temporäre Schließung des öffentlichen Raumes werden die Menschen vor eine große Herausforderung gestellt. Die Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus führen dazu, dass die Menschen in der freien Welt zum ersten Mal seit dem Beginn der liberalen Epoche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind.

Coronavirus - Vatikan
Der Petersplatz in Rom, das Herz der katholischen Weltkirche - nur ein einzelner Priester eilt vorbeiBild: picture-alliance/Pressebildagentur ULMER

Sie sind auf die eigenen vier Wände reduziert oder verbringen eine harte Zeit der Quarantäne in einem Umfeld, mit dem sie nicht vertraut sind. Darüber hinaus sind neben der eigenen Gemeinde oder Stadt ganze Länder und Kontinente voneinander abgeschottet: Die EU schließt, wie schon zuvor die USA, ihre Grenzen nach außen und selbst innerhalb Europas senken sich immer mehr Schlagbäume. Das grenzenlose Reisen innerhalb Europas, auf das die EU als zentrale Errungenschaft so stolz war - innerhalb weniger Tage wurde es von einem Nationalstaat nach dem anderen einfach abgeschafft.

Gemeinschaft in der Isolation

Das vorherrschende Gefühl kann hier nur eines der Ohnmacht sein. Gut gemeinte Ratschläge, in der Isolation nun endlich einmal alle Bücher lesen zu können, die man sich vorgenommen hat, verfangen nur bedingt, denn Ohnmacht macht lethargisch, Unfreiheit demotiviert. Von daher täte es der Menschheitsfamilie Not, sich dieser dritten (und damit den beiden anderen auch) Krise spirituell zu bemächtigen. Das geht über eine konkrete Beschäftigungsstrategie ebenso hinaus wie über die Frage, ob man mit sich selbst allein klarkommt. 

Saudi-Arabien Mekka | Coronavirus | Große Moschee, leer
Die Kaaba in Mekka - menschenleer. Nur einige Arbeiter sind zur Desinfektion des islamischen Heiligtums auf dem PlatzBild: Getty Images/AFP/A. Ghani Bashir

Es wird darum gehen, wie wir die beklemmenden Erfahrungen der Isolation, die die Vielen nun einzeln machen, überführen in ein Trost spendendes, stark machendes Narrativ für die menschliche Gemeinschaft in der Zeit nach COVID-19. Einige Sinnbilder und zentrale Orte, die bisher Gemeinschaft über alle Kontinente und Ländergrenzen hinweg stifteten, sind dieser Tage verwaist: der Petersplatz ist leer, die Heiligen Stätten des Islam in Mekka und Medina geschlossen. Diese Bilder mögen trostlos stimmen. Und dennoch: Menschen versichern einander weiterhin, dass sie da sind (und vorhaben, da zu bleiben). Sie erkämpfen sich dafür eine neue Öffentlichkeit unter erschwerten Bedingungen. Wir sind nun alle zu Hause im Exil und müssen einander Kraft spenden. So wie die Italienerinnen und Italiener, die am vergangenen Wochenende von den Balkonen ihrer Isolationshaft herab aus Leibes- und Herzenskräften gesungen und musiziert haben. 

Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.