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Literatur

Günter Grass: "Die Blechtrommel"

Sabine Kieselbach
6. Oktober 2018

Ein Roman, der einschlug wie eine Bombe. Weltkriegs- und Jahrhundertgeschichte aus der Perspektive eines Kleinwüchsigen – und eine Abrechnung mit dem Deutschland der restaurativen fünfziger Jahre.

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Filmszene Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff
David Bennent spielte Oskar Matzerath in Volker Schlöndorffs Oscar-prämierter Verfilmung der "Blechtrommel" aus dem Jahr 1979Bild: Imago/AGD

Man muss sich tatsächlich vergegenwärtigen, wie die politische Stimmung in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre war, um zu verstehen, mit welcher Wucht dieser Roman auf Leser und Kritiker traf. 1959, das war das Deutschland der Adenauer-Ära, das sich noch immer schwer tat mit seiner NS-Vergangenheit. Tätern und Mitläufern des Regimes hatte man stille Absolution erteilt und sie sogar in hohe Positionen in Politik und Verwaltung gesetzt. Und dann erschien "Die Blechtrommel", das Debüt des gelernten Steinmetzes und Bildhauers Günter Grass, der bis dahin lediglich einen Gedichtband veröffentlicht hatte.

Ein Buch, das wie eine Bombe einschlug: derb, böse, in einer deftig-barocken Sprache. Und voller Tabubrüche. Weltkriegs- und Jahrhundertgeschichte aus der Perspektive des kleinwüchsigen Oskar Matzerath, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen. Der mit einem Schrei Gläser zum Zerspringen und mit seiner Blechtrommel ein ganzes Orchester aus dem Takt bringt. Grass hat damit eine unvergessliche literarische Figur geschaffen. Und seiner Heimatstadt Danzig und dem Landstrich Kaschubien ein Denkmal gesetzt.

"Die Blechtrommel" von Günter Grass

Der Zwerg mit der Trommel

Schon der Beginn des Romans ist einigermaßen skurril. An einem kalten Herbsttag im Jahre 1899 hockt Anna Bronski auf einem Kartoffelacker, als sie beobachtet, wie ein Mann vor Polizisten flüchtet. Sie bietet ihm Unterschlupf unter ihren vier Röcken, die sie zum Schutz vor der Kälte trägt. In diesem warmen Versteck zeugt Joseph ein Mädchen, Agnes, die 24 Jahre später selbst Mutter wird von Oskar Matzerath, dem Blechtrommler und Erzähler des Romans. Der beschließt als kleiner Junge, nicht mehr zu wachsen.

"Um nicht mit einer Kasse klappern zu müssen, hielt ich mich an die Trommel und wuchs seit meinem dritten Geburtstag keinen Fingerbreit mehr, blieb der Dreijährige, aber auch der Dreimalkluge, den die Erwachsenen alle überragten, der den Erwachsenen so überlegen sein sollte, der seinen Schatten nicht mit ihrem Schatten messen wollte, der innerlich und äußerlich vollkommen fertig war."

Der kleinwüchsige Oskar betrachtet das Leben von unten. Und kommentiert so scharfsinnig wie bösartig das Leben um ihn herum. Wie der Nationalsozialismus mehr und mehr Einfluss gewinnt und auch sein Vater in die Partei eintritt. Wie seine Mutter von Anfang an ein Doppelleben führt und sich regelmäßig mit ihrem Liebhaber trifft – später wird ihr das zum Verhängnis. Wie er selbst, Oskar, seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelt, wie er den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebt, wie er dann in einem Theater an der Kriegsfront Stimmung macht – und schließlich in einer geschlossenen Pflegeanstalt landet.

Die Bilanz seines Lebens ist ernüchternd.

"Unter Glühbirnen geboren, [...] Trommel bekommen, Glas zersungen, Vanille gerochen, in Kirchen gehustet, [...] Ameisen beobachtet, [...] Trommel begraben, nach Westen gefahren, den Osten verloren, Steinmetz gelernt und Modell gestanden, zur Trommel zurück und Beton besichtigt, Geld verdient, [...] verhaftet, verurteilt, eingeliefert, demnächst freigesprochen."

Das alles vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege und der restaurativen Stimmung der bundesdeutschen Nachkriegszeit, in der die jüngste Vergangenheit kollektiv verdrängt wurde. "Die Blechtrommel" – eine Abrechnung mit der Schlussstrich-Mentalität der fünfziger Jahre.

Neueröffnung Günter Grass-Haus Lübeck
Günter Grass im Alter von 82 JahrenBild: picture-alliance/dpa/Gambarini

"Die Blechtrommel" – gehasst, geliebt, und auch international gefeiert

Mit der "Blechtrommel" kehrte die deutsche Nachkriegsliteratur auf die Weltbühne zurück. Auch wenn im gleichen Jahr weitere vielbeachtete Romane erschienen – Heinrich Bölls "Billard um halbzehn" und Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" –, kein anderes Buch hat derart für Furore gesorgt wie "Die Blechtrommel". Hans Magnus Enzensberger, ebenfalls Mitglied der Gruppe 47 war, schrieb in einer ersten Kritik, dass dieses Buch das "Klassenziel der Weltliteratur" erreicht habe.  Grass war mit seinem ersten Roman gleich ein Star.

Aber es gab auch Kritik, an seiner politischen Haltung, an drastischen erotischen Szenen, an seiner Tabulosigkeit gegenüber Kirche, Familie und allem, was Konservativen damals heilig war. Für die galt Grass als blasphemisch und obszön. 

Der Jubel war jedoch von Anfang an größer als die Kritik. Viele, auch internationale Schriftsteller haben Grass verehrt, unter ihnen weltberühmte Autoren wie Gabriel Garcia Márquez, Nadine Gordimer, Salman Rushdie und Kenzaburo Oe. Das amerikanische Time Magazine bezeichnete Grass nach Erscheinen von "The Tin Drum" als größten lebenden Romancier der Welt.

1979 verfilmte Volker Schlöndorff die ersten beiden Teile des Romans – auch das ein Riesenerfolg, ausgezeichnet in Cannes mit der Goldenen Palme, später mit dem Oscar als bester fremdsprachiger Film.

Als Grass 1999, 50 Jahre nach Erscheinen der "Blechtrommel", den Literaturnobelpreis erhielt, da schrieb die Jury in ihrer Begründung, dass dieses Buch die Wiedergeburt des deutschen Romans im 20. Jahrhundert gewesen sei. Ein zwiespältiges Lob, als habe der Schriftsteller nicht noch etliche Romane, Erzählungen und Gedichte geschrieben. Aber selbst John Irving, Schriftstellerkollege und Freund von Günter Grass, meinte, dass dieser nie mehr die Qualität des ersten Romans erreicht hätte. Ein Wermutstropfen, vielleicht. Aber bis heute gibt es keinen deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit, der so viel Einfluss auf die literarische Welt hatte wie Günter Grass mit seiner "Blechtrommel".

Günter Grass: "Die Blechtrommel" (1959), erhältlich bei: dtv und Steidl

Günter Grass (1927-2015) war einer der wichtigsten, auch international hochgeschätzten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Zu seinen bedeutendsten Werken zählt die sogenannte Danziger Trilogie, das sind die Romane "Die Blechtrommel" und "Hundejahre" sowie die Novelle "Katz und Maus", die zwischen 1959 und 1963 erschienen. Grass war Teilnehmer der legendären Schriftstellertreffen der Gruppe 47 und viele Jahre ein politisch engagierter und dadurch auch umstrittener Intellektueller. 1999 erhielt er den Literaturnobelpreis – die Jury würdigte ausdrücklich auch seine Rolle als öffentliche Figur.