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Politik

"Hoffe auf langen Brexit-Aufschub"

Birgit Maaß London
10. April 2019

Die Konsequenzen eines ungeordneten Brexits wären für Europa sogar noch schlimmer als für Großbritannien. Darauf weist der britische Historiker Timothy Garton Ash im Exklusiv-Interview mit der DW hin.

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Symbolbild Brexit | Protest gegen Austritt in London
Bild: Reuters/H. McKay

Deutsche Welle: Sie vergleichen den Brexit mit einer Seifenoper. Doch ist das wirklich nur eine "Soap Opera" - oder eine ernstzunehmende Bedrohung für den ganzen europäischen Kontinent? 

Timothy Garton Ash: Eine britische Tragödie ist auch eine Farce. Meiner Meinung nach könnten die negativen Konsequenzen für Europa sogar noch gravierender sein als für Großbritannien. Schon jetzt sind die Kräfte des Populismus, des Nationalismus und der Desintegration in Europa aktiv - und der Brexit könnte ihnen großen Auftrieb geben.  

Kann die EU irgendetwas dagegen tun?

Ich hoffe, sie wird einem langen, flexiblen Aufschub des Brexit zustimmen. Dies würde einen demokratischen Prozess ermöglichen, der entweder zu einem zweiten Referendum und damit vielleicht zu einem Verbleib Großbritanniens in der EU führen würde, was eine phantastische Chance für Europa wäre, oder zu einem "weicheren" Brexit. Beide Varianten wären weniger schlecht für Europa.

Würde ein Verbleib in der EU nicht auch bedeuten, dass sich viele Menschen verraten fühlen? Könnte dies zu heftigen Gegenreaktionen und einer Zunahme des Populismus in Großbritannien führen? 

Ich höre das Argument immer öfter in Kontinentaleuropa, dass Großbritannien so ein problematisches EU-Mitglied wäre, es werden sogar Metaphern wie "Krebs" oder "Gift" verwendet. Ich bin ziemlich schockiert darüber, wie viele meiner Freunde meinen, es wäre das kleinere Übel, wenn wir einfach gingen. Aber wenn wir an die langfristige Dimension denken, an die Beziehungen zu China oder Trumps USA, an den Klimawandel, ist es eindeutig besser, wenn Großbritannien in der EU ist. Es wäre am Anfang nicht leicht, aber wir würden es schaffen. Und am Ende wären wir in einer besseren Lage.

Glauben Sie nicht, dass es in Europa die Wahrnehmung gibt, Großbritannien müsste das jetzt durchziehen? Dass das Vereinigte Königreich den Brexit für seine "nationale Seele" brauchen könnte? 

Jemand hat mir gesagt, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe das Wort "einfühlsam" verwendet, um ihre Beziehung zu Großbritannien zu beschreiben. Und wir haben das Gefühl, dass Deutschland besser als einige andere Länder in Europa versteht, dass wir diesen Prozess durchmachen müssen. Ich weiß, es ist sehr viel verlangt von unseren europäischen Partnern, aber wir brauchen Zeit. Demokratie ist manchmal chaotisch und langsam. Großbritannien hat eine der ältesten Demokratien der Welt, und sie funktioniert immer noch. Gebt dem Parlament ein paar Wochen, und es wird das Ziel erreichen. Sollte das allerdings bis zum Ende dieses Jahres doch nicht gelingen, gebe ich selber auf.

Wie schätzen Sie Angela Merkels Verhalten im Brexit-Prozess ein? 

Historiker Timothy Garton Ash
Der britische Historiker Timothy Garton Ash Bild: Fred Rotkopf

Sie war großartig: ruhig, staatsmännisch und entschieden. Sie und die Deutschen haben viel mehr Verständnis für die Briten als andere in Europa. Im Rückblick auf das Referendum stellt sich allerdings folgende Frage: Wünscht sich Merkel vielleicht nicht im Nachhinein, mit dem Wissen, dass Immigration in Deutschland so ein riesiges Thema geworden ist, dass sie dem damaligen britischen Premier David Cameron die von ihm gewünschte Notbremse beim Thema Freizügigkeit in der EU gewährt hätte? Das hätte zu einem gegenteiligen Ergebnis beim Referendum geführt, wir hätten über eine Reform der EU diskutiert, statt über den verdammten Brexit - mit Großbritannien als einem Verbündeten Deutschlands. 

Kann der Brexit auch einen positiven Einfluss auf Europa haben?

Ich wünschte, ich könnte da einen Silberstreifen am Horizont sehen. Aber Deutschland sah sich schon in der Vergangenheit gefordert, mehr Führungsverwantwortung zu übernehmen, was ein großer Schritt gewesen wäre für die Politik und die öffentliche Meinung. Durch den Brexit wird die ohnehin sehr hohe Messlatte nochmal drei Meter höhergelegt. Ich bin nicht sicher, ob die deutsche Öffentlichkeit und Politik bereit wären, diese Verantwortung auf sich zu nehmen. Ich sehe nichts am Brexit, was für Europa positiv sein könnte. Immerhin gibt es etwas Positives für Großbritannien, denn wir sind endlich aufgewacht und sehen, was wir zu verlieren haben. Sechs Millionen Menschen haben eine Petition für den Verbleib in der EU unterschrieben - das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Was wären die Konsequenzen eines No-Deal-Brexits für die Beziehung zwischen Großbritannien und der EU?

Das würde die Beziehungen vergiften - für eine ganze Generation. Ein Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen würde beginnen. Die Briten würden Kontinentaleuropa die Schuld geben und umgekehrt. Und die wirtschaftlichen Folgen wären sehr düster und gravierend. Es gibt die Illusion, dass man die sicherheitspolitischen und außenpolitischen Beziehungen künstlich von den wirtschaftlichen trennen kann - eine Illusion, der meiner Meinung nach vor allem die Franzosen erliegen. Wenn die Wirtschaftsbeziehungen schlecht sind für Großbritannien, wenn wir eine schlimme Rezession und Massenarbeitslosigkeit haben, wenn in Krankenhäusern Menschen sterben, weil es zu Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten kommt, wird das bestimmt negative Auswirkungen auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben. Als Nächstes würde das Vereinigte Königreich dann eine Sonderbeziehung mit China eingehen, und dann kann man eine einheitliche europäische China-Politik vergessen.

Glauben Sie, dass Großbritannien im Fall eines No-Deal-Brexits wieder in Richtung EU zurückehren würde?

Ich warne davor, das zu glauben. Viele meiner Freunde glauben, wir würden innerhalb weniger Jahre zurück sein. Das ist vollkommener Unsinn. Erstens ist das eine Missdeutung der Briten. Wir sind dickköpfig und stur, einige Jahre müssten vergehen, bevor wir überhaupt einsehen, einen großen Fehler gemacht zu haben. Zweitens: Die Schotten würden gehen, und Nordirland wäre auch weg, an der Seite Irlands. Wir wären zurück im 16. Jahrhundert, die grundlegende Struktur Großbritanniens würde in Frage gestellt werden. Außerdem würde sich die Europäische Union selbst auch verändern, entlang der französisch-deutschen Linien, und deshalb wäre sie eine andere EU. In dem Fall hätten wir keine Vergünstigungen mehr, wie den "rebate" (Anm. d. Red.: durch den seit den 80er Jahren die britischen Beiträge zum EU-Budget reduziert sind). Wir müssten uns für den Euro anmelden. Das wäre alles eine Illusion.