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Gesellschaft

Gastarbeiter: Identitätskrise in Litauen?

24. September 2018

Mehr und mehr Litauer verlassen ihr Land, um in anderen EU-Staaten besser bezahlte Jobs zu finden. Gastarbeiter aus der Ukraine und Belarus in ihrem eigenen Land sind allerdings nicht willkommen. Eine Reportage.

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Litauen - Vilnius
Touristen, Gastarbeiter, Einheimische - sie alle genießen mittlerweile die Vorzüge Litauens, wie hier in den Altstadt von VilniusBild: Imago/fotokombinat

"Ein verletzter Ausländer ist auf meinem Balkon! Helfen Sie mir!" Der Anrufer bei der Litauischen Notruf-Nummer hört sich hysterisch an. Er berichtet von Rauch, der aus der benachbarten Wohnung aufsteige. Als Polizei und Rettungssanitäter ankommen, finden sie einen verletzten Mann und eine Leiche. Ein anderer Mann liegt tatsächlich mit Schnittwunden auf dem angrenzenden Balkon. Mitten in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, steht die Wohnung in der dritten Etage des neunstöckigen Gebäudes aus der Sowjet-Zeit in Flammen.

Die Polizei findet bald einen Verdächtigen: einen ukrainischen Bauarbeiter. Nach einer Party mit anderen Ukrainern gab es einen Streit um Geld, der in einem Blutbad und Brandstiftung endete. In Litauen, wo Morde selten sind, beobachtet die Öffentlichkeit diesen Fall genau. Doch es geht dabei nicht nur um den Mord unter Gastarbeitern aus der Ukraine - es geht um Litauens Zukunft und Identität.

Sinkende Einwohnerzahlen

Rund 3,7 Millionen Menschen lebten Anfang der 90er in Litauen, nachdem das Land seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hatte. Heute sind es nur noch knapp 2,8 Millionen Einwohner - Tendenz fallend. Seit Litauen 2004 der EU beigetreten ist, verlassen viele Bürger ihre Heimat, um in reicheren europäischen Ländern für bessere Löhne zu arbeiten. Großbritannien, Irland, Norwegen und Deutschland stehen ganz oben auf der Favoritenliste der Auswanderer. Einige Soziologen gehen davon aus, dass 2050 nur noch zwei Millionen Litauer in ihrem Heimatland übrig bleiben werden. Den baltischen Nachbarstaaten geht es ähnlich.

Vor allem die Bau- und Logistikbranche sowie der Einzelhandel haben bereits auf diese Entwicklung reagiert: Sie werben auch um Arbeiter aus der Ukraine und Belarus. Die Zahl der Bewerber aus diesen Ländern steigt vor allem seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und der Krise in der Ostukraine. Tausende Ukrainer verließen das Land, um woanders Arbeit zu finden.

Attraktiv für Ukrainer

Verschiedene Faktoren machen Litauen attraktiv für Ukrainer, auch neben der geografischen Nähe: Immer noch sprechen viele Menschen Russisch und seit der Einführung des Euro im Jahr 2015 gab es einen wirtschaftlichen Aufschwung. Zudem gehört die litauische Regierung weltweit zu den entschiedensten Unterstützern der Ukraine. 

Eine Baustelle in Vilnius (Foto: Delfi/T.  Vinickas)
Vor allem die Bau- und Logistikbranche in Litauen setzt auf GastarbeiterBild: Delfi/T. Vinickas

Nach Angaben des litauischen Innenministeriums ist die Zahl der Ukrainer, die eine Aufenthaltserlaubnis haben, im ersten Halbjahr um mehr als 50 Prozent im Vergleich zu 2017 gestiegen. Außerdem kamen 20 Prozent mehr Menschen aus Belarus und acht Prozent mehr Russen. Die absoluten Zahlen sind jedoch recht klein - rund 54.000 Ausländer leben legal in Litauen. Die Zahl derer, die Arbeit ohne offizielle Erlaubnis suchen, nimmt allerdings ebenfalls langsam zu. 

Legal oder illegal arbeiten?  

Der 38-jährige Yaroslav aus Kiew reist regelmäßig als "Tourist" in die litauische Hauptstadt Vilnius. Als ausgebildeter Masseur nutzt er seine Aufenthalte, um viel mehr Geld zu verdienen, als er es Zuhause je könnte. "Eine Stunde Massage kostet hier bis zu 70 Euro", sagt er. "Ich kann es für 10 oder 20 Euro machen - und das ist immer noch gutes Geld für mich." Yaroslaw glaubt, dass er eine Nachfrage bedient, die entstanden ist, weil seine litauischen Kollegen in andere EU-Länder ausgewandert sind.

Im Gegensatz zu Yaroslaw arbeiten die meisten Ukrainer und Belarussen aber legal in Litauen. Einige Unternehmen zahlen ihnen sogar die Hälfte ihrer Miete. "Meine Leute arbeiten für 4,50 Euro pro Stunde und sind bereit, zehn bis zwölf Stunden pro Tag zu schuften", sagt Alexander. Der 42-Jährige ist Chef einer Gruppe von Bauarbeitern am Stadtrand von Vilnius. "So viel Geld würden sie nie in der Ukraine verdienen."

Litauer zurückholen - geht das?

Für einige Litauer ist das genau das Problem. "Gastarbeiter drücken die Gehälter. Sie machen Arbeit, die Litauer machen könnten - und unsere Leute verlassen das Land, um nach Stavanger in Norwegen oder Manchester in Großbritannien zu gehen", sagt Laurynas Kasciunas, Abgeordneter der Mitte-Rechts-Oppositionspartei Homeland Union. "Der litauische Staat sollte die Familien unterstützen; sich dafür einsetzen, dass die Bevölkerung durch eine höhere Geburtenrate steigt; und diejenigen, die gehen wollen, überzeugen, hier zu bleiben."

Litauen, Vilnius:
"Gastarbeiter drücken die Gehälter", findet Laurynas KasiunasBild: Delfi/L. Kasiunas

Dagegen argumentiert Nerija Putinaite von der Universität Vilnius. "Es gibt keine wissenschaftlichen Daten darüber, dass Ukrainer und Belarussen den Litauern die Jobs stehlen", sagt die Philosophie-Professorin und ehemalige stellvertretende Ministerin für Wissenschaft und Bildung. "Litauer verlassen das Land seit 15 Jahren, seit dem EU-Beitritt", betont sie. "Damals waren hier noch keine Ukrainer."

Putinaite sagt, es sei Wunschdenken, dass ausgewanderte Litauer irgendwann zurückkehren. "Unsere Regierung muss die Integration verbessern - Sprachkurse für Ausländer und Stipendien für ukrainische und belarussische Studenten anbieten, damit sie in Litauen studieren können." Allerdings wollen die Litauer generell nicht zu viele Ausländer in ihrem Land, sagt sie.

Identität beschützen

Das ist eine Mentalität, die Litauen mit vielen anderen Ländern in Mittel- und Osteuropa teilt, die in ihrer Geschichte Unterdrückung und Widerstand erfahren haben. "Wir als Volk haben die Polonisierung überstanden, als das Großherzogtum Litauen 1596 mit dem Königreich Polen vereinigt wurde", erklärt der Soziologe Vladas Gaidys. "Dann kam das Russische Reich im späten 19. Jahrhundert. Dann waren die Sowjets an der Reihe mit ihren Massenexekutionen und Deportationen. Deshalb achten die Litauer sehr darauf, ihre nationale Identität und Staatlichkeit zu schützen."

Demonstranten halten Transparent hoch: Red Army Go Home (Foto: Getty Images/AFP)
Litauen war das erste Land, das sich unabhängig von der Sowjetunion erklärteBild: Getty Images/AFP

Im Gegensatz dazu beeinflusste die Migrationskrise von 2015 die Parlamentswahlen in Litauen im Jahr 2016 kaum. 2015 nahm Litauen zwar einige Hundert Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten auf - sie blieben aber nicht lange. Die ultrarechte Litauische Nationalistische Union kam noch nicht einmal an die Vier-Prozent-Hürde heran. Der Gewinner war die euroskeptische Bauern- und Grünen-Union. Sie versprach bessere Sozialleistungen und Gehaltserhöhungen.

Noch kein Rechtsruck

Sowohl der konservative Abgeordnete Kasciunas als auch die liberale Philosophin Putinaite und der Soziologe Gaidys sind sich einig: Litauen würde einen massiven nationalistischen Ruck erleben, sollten signifikant mehr Migranten aus Ländern außerhalb Europas einwandern. Allerdings ist dieses Szenario ziemlich unwahrscheinlich. "Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika finden das Leben in Litauen ziemlich hart", berichtet ein Beamter aus dem Innenministerium in einer privaten Unterhaltung. "Es ist kalt, die Sozialleistungen sind gering und es gibt kaum Gemeinschaften für diese Leute - keine Verwandten, nur wenige Restaurants mit ihnen bekannten Speisen. Warum sollten sie hier bleiben?"

Fürs Erste polarisiert dieses Thema Litauen also nicht. Aber wenn das Land noch mehr Bürger an wirtschaftlich bessergestellte europäische Länder verliert, könnte es wichtiger für die Innenpolitik werden.