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Politik

Gastbeitrag: "Die Angst ist spürbar"

Gerhard Trabert Kobane
22. Dezember 2018

Die Angst ist groß in Kobane im Norden Syriens. Die Angst, dass der Krieg zurückkehrt. Unser Gastautor, der deutsche Arzt Gerhard Trabert, berichtet von dort - und appelliert eindringlich an die Europäer.

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Das Alltagsleben in syrischen Kobane nach der Befreiung von IS
Bild: DW/K. Sheikho

Wieder bin ich auf dem Weg nach Nordsyrien, zum dritten Mal in diesem Jahr. Das Land, die Menschen, die dort leben, der Krieg, die Not sind aus den Schlagzeilen der Medien in Europa weitestgehend verschwunden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir in Deutschland und in Europa gar nicht mehr wirklich erfahren möchten, wie es den Menschen in der Kriegsregion geht.

Der Freiheitskampf vieler Syrer für eine Demokratisierung ihres Landes scheint verloren. Im Machtspiel der Großmächte und der Wirtschaftsinteressen von Multi-Konzernen wird der Samen der Demokratiebewegung zertreten.

Angst herrscht in Kobane

Die Menschen in Nordsyrien, in der Rojava-Region, haben wieder Angst vor Krieg und Zerstörung. Ich kann es an ihren Gesichtszügen erkennen. Zahlreiche Menschen treffe ich jetzt zum wiederholten Mal, ich kann ohne Worte ihre Verunsicherung, ihre Enttäuschung sehen. Und die Furcht, alleingelassen zu werden. Ich kann ihre Angst sehen und spüren. "Wir sind hier in Kobane geboren, da gehören Angst, Not, Leid und Sterben zu unserem Leben dazu", sagt mir ein hier praktizierender Chirurg, der seinen Namen lieber nicht genannt haben möchte - um ihn und seine Familie zu schützen. "Wir haben alle große Sorge, verspüren eine große Unsicherheit, und mit jedem Tag wissen wir weniger, was morgen sein wird."

Ein Geist der Freiheit

Kobane ist eine Stadt, in der eine basisdemokratische kommunale Partizipations- und Entscheidungsstruktur aufgebaut und realisiert wurde. Eine Stadt, die für mich den Geist von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lebt, ein friedliches, von Toleranz geprägtes Miteinander der verschiedenen Ethnien und Religionen.

Syrien YPG Kämpfer
Kurdische Kämpfer in KobaneBild: Getty images/A. Sik

Es beeindruckt mich immer wieder, mit welcher Energie und Engagement der Wiederaufbau von Kobane realisiert wird. Auch jetzt, da ich zum insgesamt fünften Mal in Kobane sein darf, erkenne ich zahlreiche neue Gebäude, die in jüngster Zeit entstanden sind: neue Wohnungen, Gesundheitseinrichtungen, Ausbildungsstätten, ein Waisenhaus. Kobane, die Stadt, die wie keine andere als Symbol für den Widerstand gegen den Islamischen Staat, gegen Terrorismus steht. Eine Stadt, deren Bewohner und dessen bauliche Infrastruktur in einem brutal geführten Kampf so gelitten haben (Im Herbst 2014 tobte ein erbitterter Kampf um Kobane, als IS-Milizen versuchten, die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt einzunehmen. Durch Unterstützung - unter anderem der USA - gelang es, die Stadt im Januar 2015 zu befreien, Anm. d. Red.).

Medizinische Hilfe aus Deutschland

Bei meinem jetzigen Besuch habe ich ein Dermatom dabei, ein medizinisches Gerät, das Hauttransplantationen ermöglicht - besonders der eigenen intakten Haut auf große offene Wunden an anderen Körperstellen. Mit dem Dermatom kann man große Wunden und Verbrennungen behandeln, die aufgrund der Kriegsgeschehnisse entstanden sind und die durch die Sprengfallen des IS immer wieder neu entstehen. Das neue Spezialgerät im Wert von 12.000 Euro wurde von unserem Verein "Armut und Gesundheit" aus Mainz finanziert. Zudem habe ich Medikamente für spezifische Krankheitsbilder dabei, Mittel, die es in Nordsyrien nicht gibt. Dabei werden wir von "Medizin für Rojava" unterstützt, einer engagierten Hilfsorganisation mit Sitz in Gelsenkirchen. Wir fördern außerdem schon seit über zwei Jahren den Bau und die Unterhaltung eines Waisenhauses in Kobane, das im Oktober endlich eröffnen konnte. Sofort fanden dort viele Kinder, deren Eltern im Krieg verstorben sind, ein neues Zuhause.

Flüchtlingslager 40 Kilometer nördlich von Rakka
Gerhard Trabert besucht regelmäßig dieses Flüchtlingslager in Ain Issa, rund 80 Kilometer südlich von KobaneBild: Gerhard Trabert

Mein Hilfseinsatz wird außerdem von der "Städtepartnerschaft Frankfurt - Kobane" (die maßgeblich die Finanzierung des Waisenhauses in Kobane realisieren konnte) und der "Stiftung der freien Frau von Rojava" organisiert und unterstützt. Es ist trotz aller Tragik und Not schön zu sehen, dass sich verschiedene Hilfsorganisationen in Deutschland gemeinsam engagieren, um die Lebenssituation der Menschen in Syrien zu verbessern.

Bedrohung durch Erdogan

Unmittelbar an der Grenze zur Türkei liegend, werden die Menschen aber vom Antidemokraten Recep Tayyip Erdogan, dem türkischen Präsidenten, militärisch bedroht. Erdogan und seine Gefolgsleute diffamieren die kurdisch-arabischen Widerständler gegen den IS immer wieder als Terroristen. "Wir haben Angst, dass Erdogan die arabischen Flüchtlinge instrumentalisiert, um sie dann in von der türkischen Armee besetzte Gebiete in Rojava zurückzuführen", sagt mir der befreundete Chirurg.

Es geht Erdogan nicht um die Bekämpfung von Terrorismus, es geht ihm um den eigenen Narzissmus und die territoriale Erweiterung der Türkei. Und insbesondere um die Unterdrückung und Vernichtung des kurdischen Volkes. Erdogan hat schon in der Afrin-Region völkerrechtswidrig Krieg geführt und gezielt Zivilisten ermorden lassen.

Gerhard Trabert (rechts) mit einer Mitarbeiterin des Waisenhauses "Rainbow" in Kobane
Gerhard Trabert (rechts) mit einer Mitarbeiterin des Waisenhauses KobaneBild: Gerhard Trabert

Europa schweigt

All dies wissen wir in der freien demokratischen Welt, aber wir schweigen. Die NATO, ein Militärbund der freien und demokratischen Welt, zu dem auch Deutschland gehört, akzeptiert es, dass ein NATO-Partner Kriegsverbrechen begeht. Wir akzeptieren diesen Staatsterrorismus, weil wir Angst davor haben, den NATO-Partner Türkei zu verlieren, Angst davor haben, dass noch mehr Menschen ins freie Europa fliehen.

Wir verlieren dabei unsere eigene Identität: ein europäisch-freiheitliches Selbstverständnis, das Toleranz, Mitmenschlichkeit, die Einhaltung der Menschenrechte als Basis unseres Miteinanders gesellschaftlich implementiert hat. Für welche Werte stehen eigentlich noch westliche Demokratien? Sie lassen Menschen im Mittelmeer ertrinken, schließen Grenzen und schauen weg, was mit den Menschen in Kriegs- und Armutsregionen geschieht. Sie akzeptieren es, wenn Staaten, die mit ihnen kooperieren, völkerrechtswidrige Kriege führen und Kriegsverbrechen begehen.

Die basisdemokratische Gesellschaftsordnung in Kobane in Nordsyrien ist doch die eigentliche Bedrohung für die Erdogan-Administration. Wir sollten diese zarte Pflanze der Menschlichkeit und der Demokratie schützen und unterstützen. "Alle 20-25 Jahre wiederholt sich die kurdische Leidensgeschichte", sagt man mir in Kobane. Leisten wir alle dieser humanitären Katastrophe friedlich, aber bestimmt und konsequent Widerstand!

DW-Gastautor Dr. med. Gerhard Trabert aus Mainz ist Mediziner und Professor für Sozialpsychiatrie. Seit mehr als 20 Jahren reist er immer wieder in Krisengebiete, um den Menschen vor Ort zu helfen. Er ist Gründer des Vereins "Armut und Gesundheit" im rheinland-pfälzischen Mainz.