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Politik

Dramatischer Wendepunkt im Iran

Ali Fathollah-Nejad
3. Dezember 2019

Die Proteste im Iran nach der Erhöhung der Benzinpreise sind die heftigsten seit der Revolution vor 40 Jahren. Und ihre Niederschlagung ist so blutig wie noch nie - mit verheerenden Folgen, schreibt Ali Fathollah-Nejad.

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Iran Karikatur von Mana Neyestani

Am 15. November waren über Nacht die Treibstoffpreise im Iran verdreifacht worden - die landesweiten Proteste, die nach dieser Preiserhöhung ausbrachen, sind wohl die wichtigsten in der 40-jährigen Geschichte der Islamischen Republik. Farnaz Fassihi, iranischstämmige Journalistin der "New York Times", meint, in den mehr als 25 Jahren, die sie inzwischen über das Land berichtet, habe sie "noch nie Proteste gesehen, die so unverfroren, so wütend, so weit verbreitet waren", und fügt hinzu: "Das ist ernst. Deshalb gibt es eine totale Internetsperre. Das Regime hat Angst."

Obwohl es in manchen Medienberichten anders dargestellt wurde, blieben die Proteste "weitgehend friedlich", wurden aber vom Regime mit Gewalt beantwortet. Amnesty International spricht mittlerweile von über 200 Menschen, die vor allem durch Schüsse getötet worden seien, lässt aber durchblicken, dass die tatsächliche Zahl der Opfer höher ist. Und in der Tat muss man mehrere Hundert Tote vermuten.

Seit Beginn der Unruhen sollen darüber hinaus mindestens 2000 Menschen verletzt worden sein, mehr als 7000 festgenommen. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass die Festgenommenen gefoltert oder sogar hingerichtet werden könnten. Inzwischen werden die Internetverbindungen Schritt für Schritt wiederhergestellt, und immer mehr Videos von der brutalen Niederschlagung der Proteste kommen an die Öffentlichkeit. So gibt es glaubwürdige Berichte über Hubschrauber, von denen aus auf Demonstranten geschossen wurde sowie über den Einsatz von Panzern und Maschinenpistolen in der südwestiranischen Ölindustriestadt Mahschahr, die nach wie vor nicht ganz mit der Außenwelt verbunden ist. Deren Abgeordneter hatte vor einigen Tagen im iranischen Parlament seinem Entsetzen freien Lauf gelassen, als er die Islamische Republik mit dem verhassten Schahregime gleichsetzte und die Rohani-Regierung verantwortlich machte, bevor er von seinen Kollegen gewaltsam weggezerrt wurde. Allein in Mahschahr soll es bis zu 130 Tote gegeben haben. Das Ausmaß der staatlichen Gewaltanwendung macht viele im Iran fassungslos und wütend.

Tiefes Misstrauen gegenüber den Versprechen des Regimes

Die Proteste hatten begonnen, obwohl die Regierung angekündigt hatte, dass die Einnahmen aus der Benzinpreiserhöhung 18 Millionen bedürftigen Haushalten, etwa 60 Millionen Iranern, zugute kommen sollten. Der Ausbruch der Proteste zeigt ein tiefes Misstrauen der Menschen gegenüber den Versprechungen der Regierung. Dabei ist es mit der geplanten Umverteilung gar nicht möglich, auch nur einen Teil der gestiegenen Benzinpreise auszugleichen, und auch die konkrete Umsetzung ist bisher unklar: Experten meinen inzwischen, dass für den ohnehin unzureichenden Ausgleich nur 20 Millionen Iraner als Empfänger in Frage kommen. Dabei machen die Ausgaben für Kraftstoff einen erheblichen Teil der Ausgaben eines Haushaltes mit niedrigem Einkommen aus. Und der Anstieg des Benzinpreises setzt einen Dominoeffekt in Gang, in dessen Folge viele weitere alltägliche Waren und Dienstleistungen teurer werden.

So hat sich nun der immense wirtschaftliche Druck noch verstärkt, unter dem die Iraner aufgrund von hoher Arbeitslosenquote, niedrigen Löhnen, ungebremster Inflation und Wertverlust der Währung ohnehin schon seit Jahren stehen. Aber gleichzeitig gehen Missmanagement und Korruption ungehindert weiter. Darüber hinaus hat sich die Wirtschaftskrise im Land und daraus resultierend die Verarmung vieler Iraner seit anderthalb Jahren durch die erneuten US-Sanktionen weiter verschärft, weil sie den Zufluss von Investitionen aus dem Ausland blockieren. Doch sind die Probleme überwiegend hausgemacht - weshalb die meisten Iraner in erster Linie die Politik ihrer eigenen Regierung für die Wirtschaftskrise verantwortlich machen.

Engpässe in der Staatskasse

Hinter den Benzinpreiserhöhungen stecken wahrscheinlich Haushaltsengpässe, deretwegen wohl die Zahlung der Gehälter für die Staatsbediensteten und vor allem die Mitglieder der Sicherheitskräfte in Gefahr gerieten. Hierzu hat wiederum der dramatische Rückgang iranischer Ölexporte beigetragen - ebenfalls eine Folge der US-Sanktionen. Diese finanziellen Engpässe wären jedoch zu mildern, wenn die riesigen Wirtschaftskonglomerate der sogenannten religiösen Stiftungen, der Revolutionsgarden und des Obersten Führers endlich einmal besteuert würden.

DW Sendung Quadriga EN Ali Fathollah-Nejad
Dr. Ali Fathollah-NejadBild: DW

Stattdessen beschloss die Regierung, Sparmaßnahmen gegen eine Bevölkerung zu ergreifen, die in den vergangenen Jahren ohnehin schon verarmt ist. Präsident Hassan Rohani, Parlamentspräsident Ali Laridschani und Justizminister Ebrahim Raisi haben die Preiserhöhungen gemeinsam vereinbart, und der Oberste Führer Ali Chamenei, ohne dessen Zustimmung solch eine Entscheidung undenkbar wäre, hat sie verteidigt. Zudem bezeichnete er die Demonstranten als Randalierer und Hooligans, die im Namen der Feinde Irans handelten. In der Folge gab es eine blutige Niederschlagung, und das Internet im gesamten Land wurde abgeschaltet.

Am Vorabend der Preiserhöhungen gab der Oberste Nationale Sicherheitsrat den iranischen Medien vor, wie sie über mögliche Proteste zu berichten hätten. Von der schieren Wucht der Proteste wurden die Behörden aber überrascht. Aber auch die Reaktionen der Obrigkeit waren in ihrer Grausamkeit ohne Beispiel.

Zahl der Demonstranten wird immer größer - und das Regime verliert an Legitimität

Die Novemberproteste sind im Grunde eine Fortsetzung der landesweiten Proteste vom Dezember 2017 und Januar 2018. Auch damals protestierten vor allem die unteren Schichten und die perspektivlosen jungen Menschen, und auch damals wurden die Proteste nach etwa einer Woche gewaltsam unterdrückt. Schon damals führte die Kombination von wirtschaftlichen und politischen Missständen zur Explosion. Aber diesmal hat sich - selbst nach den meist zu niedrig angesetzten offiziellen Schätzungen - die Zahl der Protestierer von damals 42.000 auf bis zu 200.000 fast verfünffacht. So stellen der neue Volksaufstand und die gewalttätige Reaktion des Staates darauf einen Wendepunkt dar - in mehrfacher Hinsicht:

Das Feindbild, das weite Bevölkerungsschichten von dem Regime als ganzes - Hardlinern und Gemäßigten gleichermaßen - haben, wurde so nur verstärkt. Mit dieser historisch einmaligen Gewaltanwendung des Staates bei der Niederschlagung von Protesten, ist die Legitimationskrise der Islamischen Republik sprunghaft gewachsen, wenn nicht gar irreparabel.

Die nächsten Unruhen nur eine Frage der Zeit

Alle Faktoren, die für die Proteste 2017/2018 und jetzt im November 2019 gesorgt haben, bleiben bestehen: eine Kombination aus sozio-ökonomischen und politischen Missständen, die eng mit der Politik des Regimes verknüpft sind. Und so ist der nächste Ausbruch des Volkszorns nur eine Frage der Zeit. Da die Regierung nicht bereit ist, die Grundbedürfnisse der Menschen im Land zu decken, und sich reformunfähig zeigt, wird der Iran auch künftig Turbulenzen und Instabilität erleben. Entscheidend ist dabei, wie der renommierte Sozialhistoriker Touraj Atabaki meint, dass die Islamische Republik wirtschaftliche Proteste konsequent als Bedrohung der nationalen Sicherheit ansieht und diese bestenfalls ignoriert.

Um ein weiteres "Massaker unter Ausschluss der Öffentlichkeit", wie die französische Zeitung "Libération" über die Ereignisse in Iran titelte, zu verhindern, müssen wir darüber nachdenken, wie zukünftig unter solchen Umständen die Medienöffentlichkeit gewährleistet werden kann. Denn sie allein ist der beste Weg, den Iranern zu signalisieren, dass ihr nächster Protest nicht wieder in einem Blutbad enden wird.

Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Gastwissenschaftler an der Brookings Institution in Doha und Affiliierter an der Arbeitsstelle Politik im Maghreb, Mashreq und Golf der Freien Universität (FU) Berlin und am Center of International Cooperation and Development Studies (CECID), Université libre de Bruxelles (ULB).