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Syrien vor der Stunde Null

Fawwaz Haddad2. August 2012

Die trügerische Sicherheit in Damaskus hat Risse bekommen und die falschen Reaktionen des Regimes lassen bei den Menschen Zweifel und Ängste aufkommen, schreibt der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad in einem Essay.

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In this image made from amateur video released by the Ugarit News and accessed Monday, July 23, 2012, a Free Syrian Army soldier reacts during clashes with Syrian government troops in Aleppo, Syria. The Syrian regime acknowledged for the first time Monday that it possessed stockpiles of chemical and biological weapons and said it will only use them in case of a foreign attack and never internally against its own citizens. (Foto:Ugarit News via AP video/AP/dapd) TV OUT, THE ASSOCIATED PRESS CANNOT INDEPENDENTLY VERIFY THE CONTENT, DATE, LOCATION OR AUTHENTICITY OF THIS MATERIAL
Syrien Aleppo Kämpfe ArchivbildBild: Reuters

Seit dem Beginn der Proteste in Syrien vor fast eineinhalb Jahren erlebt das Land Umbrüche und überraschende Wendungen, während weder die arabische noch die globale diplomatische Welt eine politische Lösung finden konnten. Die internationale Gemeinschaft hat viel Zeit und viele Gelegenheiten verstreichen lassen, ohne einen Ausweg für die syrische Krise zu finden.

Der Aufstand hatte friedlich begonnen, und er hat trotz aller Rückschläge, Enttäuschungen und der schwindenden Hoffnungen seinen friedlichen Charakter bewahrt – es wird weiterhin tagtäglich demonstriert. Insbesondere an Freitagen nimmt die Zahl der Brennpunkte deutlich zu, vor allem bei Kundgebungen und Feiern während der Trauerzeremonien für die Toten, auf denen Lieder gesungen und Parolen zum Sturz des Regimes skandiert werden.

Demgegenüber sind die Versuche der Staatsmacht gescheitert, die friedliche Bewegung mithilfe von Scharfschützen und Verhaftungen niederzuschlagen, trotz der Dutzenden, zuweilen Hunderten von Opfern jeden Tag, darunter Kinder und Frauen. Diese Gewaltstrategie führte notwendigerweise zur Militarisierung des Aufstands, da sich die Freie Syrische Armee (FAS) zum Schutze von Demonstranten bildete, beschleunigt durch die Fahnenflucht von Soldaten, die rasch zunahm und mittlerweile zu einem Massenphänomen unter Offizieren aller Ränge geworden ist. Einheiten und Kompanien fanden sich zur Freien Syrischen Armee zusammen, die sich in Rastan, Homs, Talbise, Qusair, Idlib, Daraa, Duma, Zabadani, Hama und Deir ez-Zor Gefechte mit der Staatsarmee lieferte, zuletzt auch in Aleppo und Damaskus. Die Rebellen konnten Stützpunkte besetzen, Städte und Dörfer unter ihre Kontrolle bringen und große Mengen an Waffen erbeuten.

Proteste in Syrien (Foto: afp)
Proteste in SyrienBild: AP

"Stoppt das Morden!"

Viele glauben, dass die vielen Kämpfe, die landesweit stattfinden, letztlich nur in Damaskus entschieden werden können, auch wenn dies extrem schwierig sein wird. Damaskus ist fest in der Hand des brutal agierenden Regimes; hier liegen die schwer bewachten Arsenale der Sicherheitskräfte. Aber es scheint nicht unmöglich, dass der Kampf in Damaskus entschieden wird, angesichts der Tatsache, dass die FAS bereits mehrfach in kleinen Einheiten ins Stadtzentrum vorgeprescht und sich Kämpfe mit Regierungstruppen geliefert hat. Dabei konnte die FAS sich auf eine beträchtliche Sympathie im Damaszener Umland stützen, deren Bewohner den Aufstand von Beginn an mitgetragen und Offizieren und Soldaten geholfen haben, zu desertieren.

Damaskus hat sich genau wie andere syrische Städte schon früh gegen das Regime gestellt. Auch hier gab es nicht erst zuletzt Proteste der Bevölkerung, wenn auch kleiner, als es der Größe der Stadt entspräche. Junge Damaszener schlossen sich jedoch Demonstrationen im näheren Umland an, und sie liefen bei Beisetzungen von Toten in den Vorstädten Duma, Qabun, Qadam, Harasta und Djobar mit.

Zudem hielten junge Frauen und Männer symbolische Protestkundgebungen unter dem Motto "Stoppt das Morden, wir wollen ein Land für alle aufbauen" ab, auch auf die Gefahr hin, festgenommen zu werden. Sprayer beschrifteten kampagnenartig Hauswände. Spontane, sogenannte fliegende Demonstrationen fanden statt, die mittlerweile ein vertrauter Anblick in den Straßen von Damaskus geworden sind. Die Menschen bildeten nach den Freitagsgebeten trotz der Absperrungen um die Gebetshäuser Demonstrationszüge. Dem folgten regelmäßig Zusammenstöße in den einfacheren Vierteln von Ruknaddin, Muhiddin, Midan, Qabr Atika, Bab Sridje, Mazze und Kafar Susa.

Demonstrationen richten sich gegen Bashar al-Assad (Foto: Reuters)
Demonstrationen richten sich gegen Bashar al-AssadBild: REUTERS

Nach wie vor geht jeder Demonstrant das Risiko ein, misshandelt und unter Umständen in Folterkellern den Tod zu finden. Dazu kommt, dass die Wohnung des Betroffenen gestürmt und die Büros von Aktivisten durchsucht und geplündert werden. Auch Hunderte von Universitätsstudenten blieben nicht von der Brutalität der berüchtigten Shabbiha-Banden verschont; sie wurden wochen- oder monatelang festgehalten, und manche kamen aus dem Gefängnis direkt ins Grab. Heute hat jede Stadt, jede Ortschaft, jedes Dorf und jedes Wohnviertel in Syrien seine Märtyrer, seine Koordinationsräte und seine jeweils eigene ruhmreiche Revolutionsgeschichte.

Sicherheitsfiasko für das Regime

In jüngster Zeit rückte die Hauptstadt stärker in den Blick. In Duma bei Damaskus erreichten die Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der bewaffneten Opposition eine bedrohliche Eskalationsstufe. Duma gilt als Protesthochburg. Die Truppen des Regimes beschossen die Stadt, so dass Hunderte ums Leben kamen. Die meisten Bewohner flohen aus der Stadt, die heute wie eine Miniaturausgabe des zerstörten Homs wirkt. Solche blutigen Strafmaßnahmen wurden nach und nach den meisten Siedlungen um Damaskus herum zuteil: Irbin, Zamalka, Muadhamiye, Daraya, Kiswe, Zabadani, Barze usw.

Schließlich sickerten am 20. Juli, kurz vor Beginn des Ramadan, in großer Zahl Einheiten der FAS aus mehreren Richtungen nach Damaskus ein. Sichtbar präsent waren sie in Kafar Susa, Basatin al-Mazze und Midan, von wo aus sie Machtzentren, Büros der Baath-Partei, der Sicherheitskräfte und der Geheimdienste angriffen. Auch in den Bezirken Adawi und Tidjara kam es zu kurzen Gefechten, die sich bis in die Umgebung des Ibn an-Nafis-Krankenhauses ausweiteten. Am blutigsten waren sie jedoch in Midan in Richtung Abu Habl, wo fast zwanzig Menschen starben. In der Bagdad-Straße nahe des Sab'a Bahrat-Platzes wurde ein Gebäude der Baath-Partei gestürmt.

Damaskus nach dem Bombenattentat Mitte Juli (Foto: AP)
Damaskus nach dem Bombenattentat Mitte JuliBild: dapd

Das ruhige Damaskus, das Beobachtern aus der Ferne immer so vorkam, als sei es ungerührt von dem, was anderswo im Land passiert und als gingen seine Bewohner sorglos ihrem Alltag nach, ist somit ebenfalls zu einem Brennpunkt des Konflikts geworden. Durch die Militäroperationen sind die Stadtteile Midan, Mazze, al-Hadjar al-Aswad und Tadhamun zu Kampfzonen geworden.

Dass die FAS in das Herz von Damaskus, in die Nähe des Platzes der Omayyaden und des Platzes der Abbasiden vorgerückt war, brachte die Einrichtungen des Regimes in Bedrängnis, die nun in Schussweite der Rebellen lagen. Im Gebäude der Nationalen Sicherheit fielen einer Explosion vier hohe Offiziere des sogenannten Krisenzentrums zum Opfer. Für den Sicherheitsapparat und die staatliche Presse war dies ein weiteres Fiasko.

Risse in der trügerischen Sicherheit

In Damaskus ging die Angst um, und es schien, jeden Moment könnte etwas zusammenbrechen, während unablässig Berichte über Kämpfe in Adawi und am Sab'a-Bahrat-Platz die Runde machten, und man Gewehrfeuer nicht nur von dort, sondern auch vom Hamidiye-Suq, der Nasr-Straße und vom Platz der Abbasiden her hörte. Bestätigt wurden auch Angriffe der FAS auf Panzer und Militärfahrzeuge sowie der Abschuss eines Hubschraubers über Qabun. Das Militär reagierte seinerseits mit wahllosem Beschuss der Stadtränder und der Vorstädte, was zur Flucht zahlloser Bewohner, unter anderem aus Midan, Tadhamun und Basatin al-Mazze in friedlichere Gebiete wie Tidjara, Qusur, Qassaa und Abbasiyin führte.

Das Regime war angegriffen, und umso trotziger und entschlossener wollte es nun jede bewaffnete Opposition in Damaskus vernichten. Und obgleich die FAS ihre Stellungen nicht halten und nicht weiter vorrücken konnte - sie bezeichnete es als taktischen Rückzug -, hat sie mit ihrem Vorstoß doch die letzte Schlacht zumindest eingeläutet. So sah es auch das Regime, und es ließ sich nicht davon abhalten, ohne Rücksicht auf Zivilisten drakonische Gewalt zur Ausrottung jedes Widerstands einzusetzen. Diese Schlacht wird noch lange dauern, und es ist zu befürchten, dass sie sich zu jenem Bürgerkrieg ausweiten wird, den das Regime schon mehrfach angedroht und zu dem es die Bevölkerung durch die Massaker in Hula, Qubair und Treimse angestachelt hat. Ein Krieg der Konfessionen ist eine echte Gefahr, gerade in Damaskus, wo alle Bevölkerungsgruppen bisher friedlich zusammenleben.

Kämpfe in Aleppo (Foto: AP)
Kämpfe auch in AleppoBild: AP

Noch ist die Stunde Null nicht da. Aber die trügerische Sicherheit hat Risse bekommen, und die falschen Reaktionen des Regimes lassen bei den Bürgern Zweifel und Ängste aufkommen. Alle sind auf alles gefasst. Die Möglichkeit, dass die Altstadt von Damaskus wahllos bombardiert werden könnte, steht allen als Schreckensbild vor Augen, haben die Shabbiha-Milizen doch damit gedroht, sie würden notfalls "Damaskus zerstören".

Ob nun die letzte Schlacht begonnen hat oder noch nicht, sie ist absehbar geworden. Es mag noch dauern, aber sie wird kommen. Das Regime, und mit ihm die internationale Gemeinschaft, setzen auf Zeit. Wenn es soweit ist, wird das Regime wissen, was es tut. Aber wird die Staatengemeinschaft wissen, was sie zu tun hat? Die Syrer wissen es schon jetzt. Sie werden ihre Toten begraben. Die Widerstandskنmpfer unterdessen werden keinen Blutzoll scheuen, auch wenn die Opfer seit langem nur noch in Zahlen benannt werden.

Der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad lebt in Damaskus. Sein zehnter Roman ("Soldaten Gottes") erscheint im kommenden Jahr auf Deutsch. Aus dem Arabischen von Günther Orth.