1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Russland und Europa

Fejodoer Lukjanow6. Juni 2008

Bei seinem Berlin-Besuch hat Russlands Präsident Medwedew gefordert, die Idee eines euro-atlantischen Raums von Vancouver bis Wladiwostok wieder aufzugreifen. Zu Recht, meint Fejodoer Lukjanow.

https://p.dw.com/p/EEsq
Themenbild Kommentar
Bild: DW

Wenn man das Leitmotiv von Medwedews Besuch in Deutschland zu bestimmen versucht, würde man es wahrscheinlich mit dem Modewort Kontinuität beschreiben. Man sollte sie allerdings – trotz der Wiederholung aller russischen Grundpositionen zu NATO-Osterweiterung, US-Raketenabwehrprogramm und Kosovo – nicht im engeren Sinne als Fortsetzung von Putins Politik sehen, sondern im Kontext von Russlands Entwicklung als politischer Global Player in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

Die Idee eines transatlantischen Raums zwischen Vancouver und Wladiwostok kam am Ausgang der sowjetischen Epoche auf, als Gorbatschow einen radikalen Umbau des Weltsystems in ein blockfreies vorschlug. Die Idee des europäischen Sicherheitssystems geht auf die gleiche Zeit zurück. Später, in den 1990er Jahren, wurde sie wieder aufgegriffen. Das gesamteuropäische Gipfeltreffen als eine Art des Wiederbelebens der Kongresse aus dem 19. Jahrhundert wurde bereits auch diskutiert. Worin unterscheiden sich dann die jetzigen Initiativen von früher?

Das eurasische Imperium zerfällt

Fiodor Lukjanow (Quelle: Rosbalt)
Fiodor Lukjanow ist Chefredakteur der russischen Zeitschrift "Russland in der globalen Politik"Bild: Rosbalt

Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Situation in Europa im Vergleich zu früher wesentlich anders ist. Als Michail Gorbatschow über "die neue politische Denkweise" philosophierte, löste das unterschiedliche Reaktionen aus. Aber eigentlich wurden seine Reden nicht als ein ernsthafter Aktionsplan verstanden. Die einen bewunderten die unorthodoxe Denkweise des sowjetischen Parteichefs; die anderen reagierten misstrauisch und überlegten, wo in Gorbatschows Aussagen der Haken liegt; die dritten bewunderten seine Naivität; die vierten nutzten die neuen geopolitischen Möglichkeiten pragmatisch.

Die berechnenden Realisten haben im Endeffekt Oberwasser bekommen. Das gigantische eurasische Imperium bröckelte, und die Sieger der ideologischen Konfrontation, die zunächst daran nicht einmal glauben konnten, haben angefangen, das geopolitische Erbe systematisch zu erschließen. In solchen Momenten hat man keine Zeit für die "ewigen Werte".

Aufstieg unter Putin

In der folgenden Etappe hat sich Russlands Bedeutung auf der internationalen Arena deutlich verringert. Die russischen Diplomaten hatten auch in den 1990er Jahren genug herausragende Errungenschaften und fruchtbare Ideen. Der Zustand des Landes und die Machtbalance in der Welt ließen allerdings ihre Verwirklichung nicht zu.

Unter Putin veränderte sich das russische Auftreten. Hoffnungen und Erwartungen der ersten Hälfte der Präsidentschaft verwandelten sich allmählich zu Enttäuschungen und Gereiztheit. Nichtsdestotrotz wuchs das Gesamtpotential der russischen Außenpolitik zusehends, was auch das Hauptergebnis der letzten Jahre ist.

Die NATO in der Krise

Die europäische Sichtweise hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten ebenfalls einige Veränderungen durchlebt. Die Euphorie der europäischen Wiedervereinigung begann mit dem Mauerfall 1989, fand ihre Krönung mit dem Eintritt der ehemaligen sozialistischen Länder in die EU und die NATO und begann Anfang des jetzigen Jahrzehnts abzuebben. Es wurde klar, dass sich die Dinge nicht so entwickeln, wie man es zu Anfängen der radikalen Veränderungen in Europa vorstellte, als die Optimisten "das Ende der Geschichte" verkündeten.

Das internationale System wurde aus dem Gleichgewicht gebracht, und die Stütze der westlichen Weltanschauung – die transatlantische Gemeinschaft – wurden plötzlich hinterfragt. Mit dem Verschwinden der sowjetischen Gefahr wurde klar, dass zwei Atlantikufer im politischen Sinne auseinanderdriften. Obwohl die Grundwerte Europas und Amerikas übereinstimmen, unterscheiden sich die Vorstellungen über die Form ihrer Verwirklichung immer mehr. Und: USA und Europäische Union haben fast keine gemeinsamen politischen Ziele. Die globale Position von Washington, die sich an Gewaltanwendung orientiert, trifft auf immer weniger Verständnis in den europäischen Hauptstädten. Die meisten von ihnen verloren das Interesse an der großen Geopolitik. Die restlichen Ambitionen tragen – wenn überhaupt – einen viel lokaleren Charakter.

Neue Situation, neue Chancen

Schwungvolle Entwicklung Asiens, politisches Aufwachen der "Dritten Welt", Wiedergeburt des nationalen und religiösen Selbstbewusstseins in unterschiedlichen Teilen des Planeten, Labilität der Finanz-, Nahrungsmittel- und Energiemärkte – all dies verschärft das allgemeine Gefühl der Unsicherheit.

Die neue Situation in der Welt bietet einen neuen Hintergrund für die alten Ideen, die Dmitri Medwedew in Berlin äußerte. Der globale Kontext, von dem sich keiner abkapseln kann, zwingt rigorose Spielregeln auf und macht den Korridor der Möglichkeiten sowohl für Europa als auch für Russland enger. Der Einfluss der USA sinkt. Dass Dogmen aus früheren Zeiten – vor allem aus dem Kalten Krieg – verschwinden, ist immer noch unwahrscheinlich. Aber das, was erst vor kurzem als substanzlose Träume erschien, kann sehr bald lebensnotwendig werden. Deswegen ist es nützlich, auf die Anfänge der neuen Ära zurückzuschauen und – mit der Berücksichtigung der negativen Erfahrungen der vergangenen Jahre – zu versuchen, sich den romantischen Idealen eines Europa von Vancouver bis Wladiwostok zuzuwenden.

Diesen Kommentar hat die Agentur "Rosbalt" (http://www.rosbalt.ru) zur Verfügung gestellt.