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Politik

Nur ein unsichtbarer Jude ist ein sicherer Jude?

DW Moderator Michel Friedman (Auf ein Wort…)
Michel Friedman
29. Mai 2019

Dass ausgerechnet der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Juden rät, auf die Kippa zu verzichten, ist ein Skandal. Wenn Felix Klein recht hat, hat die deutsche Gesellschaft ein Problem, meint Michel Friedman.

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DW-Zitat-Tafel Michel Friedman

Welch ein Offenbarungseid! Welch eine Bankrotterklärung! Und welch eine furchtbare Schlussfolgerung! Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesrepublik Deutschland hat gesagt: "Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen."

Zu Ende gedacht lautet der Satz so: Wenn die Gewaltbereitschaft gegen Juden in Deutschland - sowohl die geistige Brandstiftung als auch die körperlichen Angriffe - mittlerweile so groß ist, dass Juden gefahrlos keine Kippa mehr tragen können, dann sollen die Juden ihre Kippot eben ablegen.

Die richtige Antwort auf diesen Befund wäre gewesen: Wir bekämpfen den Hass und die Hasser in unserem Land so lange, bis Juden niemals die Kippa ausziehen müssen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen!

Was wird der nächste Ratschlag sein?

Dieses Land gewährleistet nach Artikel 4 des Grundgesetzes Religionsfreiheit, also allen Religionen die Möglichkeit, frei ihre Religion auch öffentlich darstellen zu können. Niemand in Deutschland käme auf die Idee, Christen zu raten, kein Kreuz mehr umzuhängen. Und deswegen ist es umso erstaunlicher, aber auch entlarvender, wenn Juden geraten wird, ihre Kippa nicht mehr zu tragen.

Bonn: Tag der Kippa - Yitzhak Yohanan Melamed
Bild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Denkt man diesen Vorschlag weiter, dann würde bald auch der Rat folgen, den Davidstern am Hals zu verstecken - wie überhaupt alle Symbole wegzulassen, die äußerlich einen Juden identifizieren. Soll ich wirklich meinen Kindern in Zukunft raten, ihre jüdische Identität nur nach nach innen zu leben und sich damit in der Öffentlichkeit zu verstecken? Folgt man konsequent dem Rat von Felix Klein, dann ist sichtbares jüdisches Leben in Deutschland unsicher. Unsichtbares vermeintlich sicher. Kann man nur noch hinter verschlossenen Türen Jude sein in Deutschland? Dann allerdings hat jüdisches Leben in Deutschland keine Zukunft.

Wenn die Diagnose von Felix Klein stimmt, dann zeigt dies, dass in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig geschehen ist, um  das gesellschaftspolitische Klima so zu verbessern, dass Judenhass wie - überhaupt Hass gegen Minderheiten in Deutschland - zur Quantité négligeable geworden wäre. Erstmals seit der Befreiung von Hitler und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland haben wir eine Partei, die mit antisemitischen Narrativen, mit Verdrehung und Verharmlosung der Nazizeit sowie mit Rassismus mit über zehn Prozent in den Bundestag und alle Landesparlamente gewählt wurde. Im Klartext: Führende Teile dieser Partei versuchen Hitler und das Dritte Reich kleinzureden, scheuen sich nicht vor geistiger Brandstiftung und wünschen sich eine andere Demokratie in Deutschland. Die Wölfe im Schafspelz haben im Bundestag endgültig ihr wahres Gesicht gezeigt. Wer diese Partei heute noch wählt, kann sich nicht darauf berufen Protestwähler zu sein, sondern macht sich mitschuldig.

Institutionelles Versagen seit Jahrzehnten

Antisemitismusbeauftragter Felix Klein
Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der BundesregierungBild: Imago Images/epd/C. Ditsch

Wenn die Diagnose von Felix Klein stimmt, dann haben seit Jahrzehnten aber auch die politischen Institutionen versagt. "Wehret den Anfängen" ist ein Standardsatz, den deutsche Politiker und Politikerinnen mit Blick auf den Antisemitismus seit Jahrzehnten vor sich hertragen. Dabei sind sind wir längst mittendrin. Viel zu lange haben viel zu viele die Anfänge übersehen. Viel zu lange haben viel zu viele nicht auf die Anfänge reagiert und die gesellschaftspolitische Debatte nicht geführt. Jeder Einzelne muss sich da an die Nase fassen - in Vereinen, in der Familie, im Beruf. Wie oft hat man Judenwitze, die der Chef, der Vater, der Vereinsvorsitzende en passant fallen ließen, einfach überhört und nicht reagiert. Wer aber auf die Anfänge nicht reagiert, macht sich mitschuldig. Verändert auch sein eigenes Koordinatensystem.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar" - so lautet Artikel 1 des Grundgesetzes. Doch Juden in Deutschland können sich darauf anscheinend nicht mehr zu 100 Prozent verlassen. Wer jetzt immer noch die üblichen Beschwichtigungen referiert "Ab jetzt müssen Polizei und Staatsanwaltschaft sensibler damit umgehen" oder "Wir tragen jetzt alle an einem Tag die Kippa aus Solidarität" (Was ist an den anderen Tagen?) oder auch für eine großartige Rede des Bundespräsidenten plädiert, in welcher er dazu auffordert den Antisemitismus zu bekämpfen, hat immer noch nicht begriffen, dass das schon lange nicht mehr reicht. Die Lage ist ernst. Wenn es tatsächlich stimmt, dass Juden in Deutschland, sobald sie sichtbar sind, nicht ohne Bedrohung ihren Alltag leben können, dann steckt diese Republik in einer Demokratie-Krise.