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Russlands Blick zurück wird sich ändern

12. Juni 2015

Die Souveränitätserklärung Russlands vor 25 Jahren war eine Chance zur Veränderung, die ungenutzt geblieben ist. Doch die Russen werden die antikommunistische Revolution noch schätzen lernen, meint Konstantin von Eggert.

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Tag Russlands, Feiertag mit Fahnen, Patriotismus und Nationalismus (Foto: ITAR-TASS/ Vyacheslav Prokofyev)
Bild: picture-alliance/ITAR-TASS

Der 12. Juni weckt bei den Russen heute keine Gefühle, obwohl er arbeitsfrei ist. Wenn überhaupt, dann ruft der "Tag Russlands" nur ein müdes Lächeln hervor: "Das ist sozusagen unser Tag der Unabhängigkeit. Aber von wem eigentlich?"

Im Jahr 1990 erschien alles nicht so sinnlos. Das Dokument, das an jenem Tag vom ersten demokratisch gewählten Parlament der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), die damals Teil der Sowjetunion war, verabschiedet wurde, galt als ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes. Die "Erklärung über die staatliche Souveränität der RSFSR" proklamiert den Primat der russischen Gesetze über die der Sowjetunion, die Gewaltenteilung sowie die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Gleichzeitig versprach sie den autonomen Regionen innerhalb Russlands mehr Rechte. Die Erklärung ist tatsächlich ein Meilenstein, denn zum ersten Mal wurde das moderne Russland offiziell als echte und nicht als sozialistische Demokratie definiert. Das russische Parlament erklärte außerdem, Mitglied einer erneuerten Sowjetunion bleiben zu wollen. Aber die Sowjetunion fiel auseinander.

Was wurde verloren? Was wurde gewonnen?

Der größte Teil der russischen Gesellschaft macht heute die damalige Führung der Russischen Sowjetrepublik unter Boris Jelzin für die "Zerstörung" der Sowjetunion verantwortlich. Und Michail Gorbatschow, der im März 1990 zum ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion gewählt wurde, wird Schwäche und die Unfähigkeit vorgeworfen, die "Zerstörung" des Landes nicht verhindert zu haben.

Erwähnt man im heutigen Russland die Erklärung vom 12. Juni 1990, dann beginnt eine Diskussion darüber, ob die Auflösung der Sowjetunion unvermeidlich war oder ob der Staat hätte erhalten bleiben können. "Welch ein Land wir verloren haben!" -diesen Satz wiederholen die Menschen von Smolensk bis Wladiwostok wie einen Refrain. Doch die Sowjetunion wäre auch zusammengebrochen, wenn die russischen Abgeordneten die Souveränitätserklärung nicht verabschiedet hätten. Das Sowjetsystem, das Millionen eigener Bürger vernichtet hat, hatte Ende der 80er Jahre ganz einfach seine Ressourcen aufgebraucht.

Portrait von Konstantin Eggert (Foto: Konstantin Eggert)
Konstantin von Eggert ist ein unabhängiger russischer Journalist und KommentatorBild: Privat

Gorbatschow gegen Jelzin

Es lässt sich nicht leugnen, dass die Souveränitätserklärung ein Teil von Jelzins Machtkampf gegen die Führung der Sowjetunion war. Aber das einstimmig verabschiedete Dokument muss man auch in dem Kontext sehen, in dem es möglich geworden war. Vorher hatte es zwei Urnengänge gegeben: 1989 die Wahlen der Volksdeputierten der gesamten Sowjetunion und 1990 die der Abgeordneten der Russischen Sowjetrepublik. Jelzin war der populärste Politiker des Landes mit der stärksten Legitimität. Instinktiv verstand er, dass Glaubwürdigkeit und Autorität vor allem im politischen Konkurrenzkampf erworben werden.

Dies unterschied ihn grundlegend von Gorbatschow, der Wahlen fürchtete. Dieser verpasste seine letzte Chance zu einer demokratisch legitimierten Führungsfigur zu werden, als er im März 1990 entschied, den Präsidenten der Sowjetunion nicht direkt vom Volk wählen zu lassen. Faktisch hatte sich Gorbatschow für diesen Posten einfach selbst ernannt. Doch von da an wurde er zur Geisel der reaktionären Spitze der Kommunistischen Partei und Bürokratie des Landes, die ihn im August 1991 fallen ließ. Damit wurde zugleich auch die ohnehin geringe Chance zerstört, die Sowjetunion in irgendeiner Form als Ganzes zu erhalten.

Verpasste Chance oder künftiges Vorbild?

Russland war in seiner Geschichte noch nie eine Demokratie. Als man 1992 den 12. Juni zu einem gesetzlichen Feiertag, zum "Tag Russlands" machte, hofften noch die meisten Russen, dass sich ihr Land in eine vollwertige Demokratie wandeln würde. Erfüllt hat sich dieser Wunsch in vollem Maße jedoch nicht. Heute wird, wenn überhaupt, meist negativ an die Unabhängigkeitserklärung vom 12. Juni 1990 erinnert. Negativ sieht man auch die gesamte Zeit der Perestroika und der antikommunistischen friedlichen Revolution von 1989 bis 1991. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Der vielleicht Wichtigste ist das postimperiale Syndrom der verlorenen Größe des Landes. Der Kreml kultiviert es erfolgreich und nutzt es mit Hilfe seiner sehr mächtigen Propagandamaschine für eigene Ziele aus. Die heutige russische Politik ist der Vergangenheit zugewandt und von Nostalgie geprägt. Sie bietet keine Zukunftsvision. Früher oder später wird dieser Politik die Puste ausgehen und sie wird bei den Bürgern an Anziehungskraft verlieren.

Eine Neubewertung der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert steht nicht unmittelbar bevor, aber sie ist unvermeidlich. Das Ende der 80er Jahre und der Anfang der 90er Jahre - das bleibt die Epoche des bisher einzigen und relativ erfolgreichen Durchbruchs Russlands hin zu politischer und wirtschaftlicher Freiheit. Der US-amerikanische Historiker Leon Aron spricht von einer "Ära des Idealismus und der Bürgerwürde". Spätestens in 15 bis 20 Jahren werden auch die Russen soweit sein und ihre Sicht auf jene Zeit korrigieren - und sie als einen der positivsten Momente in der russischen Geschichte betrachten!

Konstantin von Eggert war lange Mitarbeiter des Russischen Programms der BBC. Heute arbeitet der gebürtige Russe als freier Analyst, Journalist und Kommentator.