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Gefährlicher Machtkampf in der Ukraine

24. November 2004

Die Situation in Kiew spitzt sich zu: Die Opposition hat ihren Führer Juschtschenko zum Wahlsieger gekürt. Sie will das offizielle Wahlergebnis nicht anerkennen. Auch aus dem Ausland werden immer mehr Zweifel laut.

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Großdemonstrationen in KiewBild: AP

Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, der Anspruch auf die sofortige Führung des Landes erhob, rückte am Dienstagabend (23.11.2004) an der Spitze tausender Anhänger auf das schwer bewachte Präsidialamt in Kiew vor. Der Marsch stoppte erst an einer Sperre von etwa 500 schwer bewaffneten Polizisten vor dem Gebäude.

Stunden zuvor hatte Juschtschenko dem Parlament in Kiew mit der Hand auf der Bibel geschworen, "Rechte und Freiheit der ukrainischen Bürger zu schützen." Nach einer turbulenten Parlamentssitzung hatte er auf Drängen seiner Partei den Amtseid des Präsidenten gesprochen. Allerdings waren bei der Sitzung der Abgeordneten nicht genügend Parlamentarier erschienen, um eine Beschlussfähigkeit zu erreichen. Wegen des Boykotts der regierungsnahen Abgeordneten waren nur 191 von insgesamt 450 Mandatsträgern anwesend. Für ein gültiges Votum ist eine einfache Mehrheit von 226 Stimmen notwendig.

Gefährdete Beziehung

Begleitet von zehntausenden Anhängern war Juschtschenko zum Parlament gezogen, das nachmittags zu einer Sondersitzung zusammengekommen war. "Das ist zurzeit das einzige demokratische Institut, das wir haben", sagte Juschtschenko. Die Opposition forderte von den Abgeordneten, der Wahlleitung das Misstrauen auszusprechen und die Wahl in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Lugansk für ungültig zu erklären. Die Opposition rief das Ausland auf, "den neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko zu unterstützen, wie es das Volk der Ukraine bereits getan hat".

Der Außenbeauftragte des EU-Ministerrates, Javier Solana, hatte vor der Wahl mit dem scheidenden Präsident Leonid Kutschma telefoniert und ihn vor Unregelmäßigkeiten gewarnt. Die nachbarschaftlichen Beziehungen seien in Gefahr. "Nicht nur die EU, sondern auch die NATO hatte früher ganz gute Beziehungen zur Ukraine", sagte er. "Wenn sich die Situation negativ entwickeln sollte, müssen wir unser Verhältnis zur Ukraine vielleicht überdenken."

Kritik aus Europa und Übersee

Die EU kritisiert seit langem Menschenrechtsverletzungen und mangelnde Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine. Präsident Kutschma zeigte sich auf dem letzten Gipfeltreffen mit der EU im Juli enttäuscht, dass die Union der Ukraine auch langfristig keine Beitrittsperspektive bieten wolle. Kutschma hatte sich darauf hin mehr Richtung Osten, Richtung Moskau und einer Freihandelszone mit Russland orientiert. In US-Regierungskreisen hieß es, die USA könnten ihre Wirtschafts- und Militärhilfe für die Ukraine kürzen und die Vermögen von an Wahlbetrug beteiligten Personen einfrieren sowie diesen Einreisegenehmigungen verweigern.

Die USA haben ebenfalls von der Ukraine eine Aufklärung der Betrugsvorwürfe bei der Präsidentenwahl gefordert. Ansonsten müsse die US-Regierung ihre Beziehungen zu dem osteuropäischen Land überprüfen, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Adam Ereli. "Wir sind sehr besorgt wegen der Wahl in der Ukraine", sagte Ereli. Die US-Regierung fordere die ukrainischen Behörden auf, ihren demokratischen Verpflichtungen gerecht zu werden und sicherzustellen, dass das Wahlergebnis den Willen des Volkes widerspiegele.

Ergebnis manipuliert?

Nach Einschätzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erfüllte die Wahl nicht demokratische Standards. Der niederländische Ratsvorsitzende Bot sagte, die EU sähe aus dem Bericht der OSZE-Wahlbeobachter, dass die zweite Wahlrunde klar hinter internationalen Standards zurückgeblieben sei. Er kündigte an, sämtliche EU-Staaten würden die ukrainischen Botschafter einbestellen, um sich zu beschweren. Im Namen der Europäischen Union, deren Mitglieder Polen, Slowakei und Ungarn direkt an die Ukraine angrenzen, forderte er die Behörden in Kiew auf, noch einmal nachzuzählen.

Nach Angaben der Wahlkommission in der Ukraine hat entgegen den Prognosen vom Wahlsonntag Ministerpräsident Viktor Janukowitsch und nicht der Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko die Wahl gewonnen. Die Europäische Union hatte sich offen für Juschtschenko eingesetzt, der sich vom autokratischen Stil des scheidenden Präsidenten Leonid Kutschma absetzen und mehr nach Europa hin öffnen wollte.

Riss durchs Land

Die Ukraine ist wegen des Wahlergebnisses tief gespalten. Die Stadträte von Lwow (Lemberg) und Iwano-Frankowsk im Westen des Landes erklärten, dass sie nur Juschtschenko als Präsidenten anerkennen. In Kiew sollen laut der Nachrichtenagentur dpa etwa 300.000 Menschen für den liberalen Reformpolitiker demonstriert haben. Die Oppositionsführerin Julia Timoschenko rief zur Blockade von Bahnlinien und Flughäfen auf. Auf der Halbinsel Krim und im Osten der Ukraine gingen dagegen tausende Menschen für Janukowitsch auf die Straße. (arn/ch)