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Politik

Gegen Virus und Stigma: Landrat Pusch

19. April 2020

Heinsberg war für Deutschland so etwas wie Wuhan für China; das Corona-Epizentrum. Landrat Stephan Pusch hat sich gegen die Seuche und viele Vorurteile gestemmt - mit unkonventionellen Mitteln.

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Deutschland Corona-Pandemie | Hotspot Heinsberg | Landrat Stephan Pusch
Bild: Imago Images/S. Reichwein

Heinsberg hat das Schlimmste wohl hinter sich.Die Infektions- und Todesraten steigen nur noch langsam an. Landrat Stephan Pusch (CDU) und sein Team aus der Kreisverwaltung Heinsberg sind "vorsichtig entspannt", wie er der Deutschen Welle am Telefon sagt.

Dabei war Heinsberg das Epizentrum der Seuche in Deutschland. Bei einer Karnevalssitzung Ende Februar hatten sich viele Menschen mit dem COVID-19-Erreger infiziert und erkrankten. Der Kreis Heinsberg,  im äußersten Westen zwischen Aachen und Düsseldorf gelegen, wurde zum Epizentrum der Seuche; zwei Wochen bevor sich der Erreger im ganzen Land verbreitete. Es war der "GAU", also fast wie eine Explosion in einem Kernkraftwerk, sagt Jurist Stephan Pusch, der seit 2004 Landrat in Heinsberg ist. Schon einen Tag nach Aschermittwoch, dem Ende der Karnevalssaison, wurde ein Ehepaar positiv getestet. Das war der Tag, an dem für Pusch der Kampf gegen den unsichtbaren Feind begann. "Wir haben eine sehr, sehr schwierige Situation gehabt", sagt er.

Deutschland Corona-Pandemie | Hotspot Heinsberg | AWO Altenzentrum
Corona-Tests in einem Altenheim in HeinsbergBild: picture-alliance/dpa/J. Güttler

Anfang März schnellen die Infektions- und Todesraten im Kreis Heinsberg in die Höhe. In den Kliniken, Arztpraxen und Altenheimen wird Schutzausrüstung zur Mangelware und Heinsberg deutschlandweit zum Inbegriff für die Seuche. Die Ärzte und Pfleger arbeiten bis zur vollkommenen Erschöpfung. Oft ohne am Vormittag zu wissen, ob das Schutzmaterial noch bis zum Abend reicht. 

Lieber Chinesen, die Masken liefern, als Amerikaner, die sie wegkaufen

Jetzt war Landrat Pusch gefragt. Als der Markt für Schutzmaterial in Deutschland leergefegt war, rief Stephan Pusch die Bundeswehr um Amtshilfe. Aber danach war "ich mit meinem Latein am Ende". Da kam ihm eine Idee: global denken! Pusch ging die Volksrepublik China um Hilfe an, wandte sich an den chinesischen Generalkonsul. Ein deutscher Christdemokrat bittet die chinesischen Kommunisten um Hilfe: "Ich habe dann allen Stolz über Bord geworfen. Jetzt ging es darum, dass man alles macht, was pragmatisch geht." So schaffte es Stephan Pusch, unkonventionell und schnell zu helfen. "Ich habe gekämpft wie ein Löwe." Lohn der Mühe: Der chinesische Präsident Xi Jingping lässt 15.000 Atemmasken schicken.

Corona-Hotspot Heinsberg

Dass diese Aktion von der chinesischen Seite vielleicht für Propagandazwecke genutzt werden könnte, hat Pusch nicht weiter interessiert: "Mir sind Chinesen, die Material bringen, lieber, als Amerikaner, die es uns vor der Nase wegkaufen."

Der "Seuchen-Kreis"

Doch musste Pusch nicht nur gegen das Virus ankämpfen, sondern auch gegen das Stigma des Seuchen-Kreises. Obwohl Heinsberg schnell einen Krisenstab einrichtet, die Schulen sperrt, das öffentliche Leben rigoros einschränkt, bleibt der Kreis lange das Synonym für die todbringende Seuche; fast so wie Wuhan in China. Heinsberger sind nicht mehr willkommen: in den Nachbarkreisen, bei damals noch stattfindenden Fußballspielen, bei den holländischen Nachbarn.

Das wollten sich die Heinsberger und ihr Landrat nicht bieten lassen und setzten sich zur Wehr: mit transparenter Informationspolitik und mit dem Twitter-Hashtag #hsbestrong. Seid stark für HS, also für Heinsberg. HS steht auf den Autokennzeichen des Landkreises. Zusammengeschweißt haben auch die Videobotschaften von Politiker Pusch. Fast täglich hält er darin die Bürger über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden.

Heute sind viele Heinsberger stolz auf sich und ihren Landrat, haben sich untergehakt und "einen tollen Gemeinsinn entwickelt", resümiert Pusch. "Das einzige Medikament, das wir zurzeit haben, ist Solidarität und Menschlichkeit."

Vom Epizentrum zum Seuchen-Testlabor

In Heinsberg hat sich die Lage in der Corona-Krise etwas beruhigt. Doch die Zahlen sind immer noch vergleichsweise hoch. Im Kreis Heinsberg wurden bis zum 16. April auf 250.000 Einwohner 55 Corona-Tote gezählt, in Berlin waren es bis zu diesem Zeitpunkt 84 Tote bei fast vier Millionen Einwohnern. 

Heinsberg wurde, weil es der Seuchenentwicklung zwei Wochen voraus ist, sogar zum Testlabor. In der besonders stark betroffenen Gemeinde Gangelt, die zum Kreis gehört, untersuchte der Bonner Virologe Hendrik Streeck genauer, was man aus der Pandemie für die ganze Republik lernen kann. Die Wahrscheinlichkeit, an der Krankheit zu sterben, bezogen auf die Gesamtzahl der Infizierten, lag in Gangelt bei 0,37 Prozent. Bisher ging man von Raten aus, die fünf Mal höher liegen. In der Gemeinde haben, nach dem ersten Zwischenergebnis der Studie, rund 15 Prozent der Bürger eine Immunität ausgebildet.

Deutschland Corona-Pandemie | Hotspot Heinsberg | Ortseingangsschild
Heinsberg ist weiterhin eine der am stärksten von Corona betroffenen Regionen DeutschlandsBild: picture-alliance/dpa/J. Güttler

Natürlich ist die Corona-Pandemie noch nicht vorbei; auch in Heinsberg nicht. Das ist Stephan Pusch bewusst, und er will nichts von Entwarnung wissen: "Sollte es nämlich zu einer zweiten Infektionswelle kommen, und man müsste dann die Maßnahmen noch einmal verschärfen, hätte man wohl mit ganz großen Widerständen in der Bevölkerung zu rechnen."

Pusch ist Christdemokrat. Er sagt, er habe in diesen Ausnahmewochen eine "Renaissance der christlichen Werte" bemerkt, und "dass man auf keinen Fall die Menschlichkeit verlieren darf, die Dinge klar benennen soll, ohne um den heißen Brei herumzureden."

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online