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Gegenwart dauert drei Sekunden

Jan Lublinski8. November 2005

Woher kommt die Ordnung unserer Welt in Vergangenes und Zukünftiges? Jan Lublinski fasst den Stand des naturwissenschaftlichen Wissens und Unwissens über die Zeit zusammen.

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Bild: dpa

"Was ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, dann weiß ich es. Wenn ich es jemand auf sein Frage hin erklären soll, dann weiß ich es nicht," sagte einst der Philosoph und Theologe Augustinus. Viel genauer können es auch heutige Wissenschaftler kaum beschreiben. Der amerikanische Quantenphysiker John Wheeler sagte einmal: "Die Zeit ist das, was verhindert, das alles gleichzeitig passiert".

Über Jahrhunderte hinweg waren die Menschen unseres westlichen Kulturkreises überzeugt: Die Zeit ist ewig, und der ganze Kosmos wird von ihrem Strom durchzogen. "Allein schon der Umstand, dass wir immer von DER Zeit sprechen, deutet darauf hin, dass wir die Zeit als eine ganz bestimmte und universell vorhandene Größe betrachten," sagt der Kosmologe Jürgen Ehlers vom Max Planck Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. Der Grund für diese Annahme sei der Tatsache geschuldet, erklärt Ehlers, dass wir alles, was wir sehen, "automatisch und ohne darüber nachzudenken als gleichzeitig setzen mit dem Augenblick der optischen Wahrnehmung".

Vom Ende der absoluten Zeit

Die Zeit, so schien es lange Zeit, existiert überall und läuft an allen Orten gleichermaßen ab. Im christlich geprägten Abendland war das ein Hinweis auf die Allgegenwart Gottes. Dann aber kam das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der industriellen Revolution und der beschleunigten Kultur.

Die Entdeckung der Lichtgeschwindigkeit
Die Entdeckung der Relativität von Albert EinsteinBild: AP

Henri Poincaré und später Albert Einstein fanden zu einem neuen Zeit-Bild mit einer Überlegung, die aus heutiger Sicht selbstverständlich ist: Will man von Gleichzeitigkeit an räumlich getrennten Orten sprechen, so muss man Signale von einem Ort zum anderen übertragen und berücksichtigen, wie lange diese Signale unterwegs sind. Auf dieser Überlegung fußt die Relativitätstheorie, und mit ihr ging die Zeit der absoluten Zeit zu Ende.

An ihre Stelle setzten Einstein und die Astronomen das heutige Bild des Universums: Mit dem Urknall hat alles begonnen, der Kosmos dehnt sich immer weiter aus. Vielleicht explodiert er irgendwann - oder aber er fällt wieder in sich zusammen.

Möglich ist es nach der Relativitätstheorie auch, dass die Zeit zurückkehrt, so wie im Film "Und täglich grüßt das Murmeltier", wo der Held jeden morgen aufwacht und feststellen muss, dass der vergangene Tag wieder von vorne beginnt. 1949 war der österreichische Mathematiker Kurz Gödel zu dem Schluss gekommen, dass das solche Murmeltier-Universen im Rahmen der Relativitätstheorie im Prinzip existieren könnten. "Das hat Gödel dann veranlasst zu sagen, die Zeit gibt es eigentlich nicht wirklich. Das ist nur so ein Parameter, mit dem wir unsere Bewusststeinsinhalte ordnen", erzählt Ehlers.

Nur Scherben - keine Tasse

Doch woher kommt der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft? Warum zerfällt eine Tasse, die zu Boden geht, in viele Scherben - und warum geschieht dies nicht umgekehrt? Die Relativitätstheorie gibt darauf keine Antwort. Albert Einstein hat sein Leben lang nach einer noch tiefer liegenden Theorie gesucht, die auch auf diese Frage eine Antwort gegeben würde - ohne Erfolg.

In der Tat wissen die Hirnforscher längst, dass unser Gehirn mit Hilfe des Gedächtnisses eine Abfolge von Ereignissen konstruiert. Die Gegenwart kann für uns Menschen bis zu drei Sekunden dauern. In diesem Zeitraum können wir Ereignisse unmittelbar zusammen bringen, wie etwa die Folge von Tönen in einer Melodie. Erhält das Hirn nach drei Sekunden keine neuen Reize, so stellt es sich quasi die Frage: "Was gibt es eigentlich Neues?" - und konstruiert einen neuen Moment der Gegenwart.

Jede Zeit ist anders - wirklich!

Umgekehrt kann das Gehirn zwei Sinnesreize nicht beliebig schnell hintereinander verarbeiten. Alle Reize, die schneller als etwa 30 Millisekunden aufeinander folgen, werden als gleichzeitig registriert. Das Gehirn nimmt die Welt also eigentlich ruckartig wahr, wie bei Fotos, die schnell hintereinander entstehen, verarbeitet aber die Schnappschüsse dann zu einem kontinuierlichen Strom der Zeit.

Gibt es ein Tempolimit für das Denken?
Da drinnen findet Zeit stattBild: Max-Planck-Institut für Strömungsforschung

Wie das alles aber im Detail funktioniert, ist den Hirnforschern bis heute ein Rätsel. Fest steht nur: Jedes Gehirn stellt sich seine eigene Zeit zusammen, sein individuelles Tagebuch der Ereignisse. Aus der Zeit, die einst als absolut und allgegenwärtig galt, ist heute eine relative Zeit geworden, die an jedem Ort und in jedem Individuum anders ablaufen kann.

Dennoch ist eine Verständigung über die Zeit möglich - über Signalübertragung oder noch allgemeiner über Kommunikation.