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Geisterstunde

Benjamin Bidder7. März 2007

Viele Petersburger fürchten um die Seele, die Atmosphäre und die Silhouette ihrer Stadt. Es droht eine Horizontverschmutzung. Die Bedrohung kommt aus dem Osten - und hat auch einen Namen: Gazprom.

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Gespenstische Szenen am vergangenen Samstag in St. Petersburg: Der Newskij Prospekt, die Flaniermeile der Metropole, wird von einem massiven Aufgebot der russischen Miliz abgeriegelt. Quer gestellte Busse blockieren die Straße, Krankenwagen stehen bereit, in den Seitenstraßen stehen weitere Spezialeinheiten mit Schlagstöcken und schweren, eisernen Schilden bereit. Sie warten auf den "Marsch der Nicht-Einverstandenen“, einen Protestzug, zu dem ein wild zusammen gewürfeltes Bündnis der russischen Opposition aufgerufen hat. Die im Vorfeld verbotene Demonstration, zu der trotzdem 3000 Menschen kommen, löst die Miliz mit harter Hand auf, rund 50 Personen werden festgenommen.

Die Stimmung ist gespannt vor den anstehenden Wahlen des Petersburger Stadtparlamentes am 11. März, wenn nicht gar gereizt. Unheimliches geht vor: Oppositionelle Internetseiten fallen nacheinander rätselhaften Hackerangriffen zum Opfer, kleinere Parteien werden von den Wahlen ausgeschlossen und eine Bürgerinitiative steht plötzlich einem geisterhaften Doppelgänger ihrer selbst gegenüber.

Verwunschene Atmosphäre

Ist St. Petersburg in Gefahr? Eine Reihe Petersburger Schriftsteller diskutiert jedenfalls kurz nach der Demonstration im schummrigen Kellergewölbe eines Restaurants, wie die Stadt verteidigt werden kann. Oder ob sich ihre "lebendige Stadt“ durch metaphysische Kräfte selbst helfen werde. Viele St. Petersburger sind überzeugt davon, dass ihre Heimatstadt mehr ist als leblose Straßen und Gebäude: Petersburg ist für sie ein eigenes Wesen, das lebt und fühlt. Gespeist wird diese Überzeugung durch die verwunschene Atmosphäre zwischen den Kanälen und den sagenhaft schönen Palästen der Stadt. Denn im Gegensatz zu anderen Metropolen der Welt hat Sankt Petersburg sein historisches Stadtbild weitgehend bewahrt und auch Kriegen und Krisen getrotzt.

Schon einmal soll dabei Übernatürliches im Spiel gewesen sein. Während im Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen die Stadt belagerten fuhr nächtens der Geist des Stadtgründers Peters des Großen höchst selbst aus dem Grabe und versicherte: Meine Stadt wird nicht fallen!

Mit Geld sturmreif geschossen

Doch dieses Mal kommt der Feind von Osten. Er greift die Stadt nicht mit Artillerie und Bombern an - Gazprom hat die Stadt mit seinem Geld sturmreif geschossen. Auf gigantische Steuereinnahmen durch den Umzug des Konzerns an die Newa hoffend will die Stadtregierung dem Unternehmen nicht nur goldene Brücken, sondern gleich einen kompletten Wolkenkratzer bauen - und schickt sich an, für das Prestigeobjekt sogar das Gesetz zu brechen. Denn das neue Statussymbol des Gasgiganten soll die erlaubte Höhe von 48 Metern gleich um das neunfache übertreffen.

Und so fürchten viele Petersburger um die Seele, die Atmosphäre und die Silhouette ihrer Stadt. Und letztere ist nun einmal traditionell flach. Es gärt unter den Städtern, Anti-Gazprom Flugblätter gehen von Hand zu Hand, Protestaktionen werden geplant. Doch der Widerstand scheint aussichtslos zu sein. Die liberale Jabloko-Partei, die Spitze des Protestes, wurde von den anstehenden Wahlen ausgeschlossen. Die Bürgerinitiative, die eine Volksabstimmung initiieren wollte, sieht sich auf einmal mit einer mysteriösen Doppelgängerorganisation konfrontiert, die sie schwächen soll. Und das Referendum selbst steckt fast hoffnungslos in den Mühlen der Bürokratie fest. Bleibt die Hoffnung auf den Geist des guten Zaren.