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Russland: Protest gegen Rentenpläne

Miodrag Soric Moskau
3. Juli 2018

Der Widerstand gegen die von Premierminister Dimitri Medwedew geplante Rentenreform in Russland wächst. Zu Tausenden demonstrieren Menschen gegen die schrittweise Erhöhung des Rentenalters. Aus Moskau: Miodrag Soric.

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Russland - Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters
Bild: picture-alliance/dpa/TASS/D. Feoktistov

Rebellion gegen Rentenreformen in Russland

Für Frauen in Russland soll das Rentenalter bis 2034 schrittweise auf 63 Jahre steigen, für Männer bis 2028 auf 65 Jahre. Seit 1932 gehen russische Frauen mit 55 und Männer mit 60 in Pension. Seitdem scheiterten Versuche, die Altersgrenze anzuheben. Das letzte Mal 2005. Damals versprach Präsident Putin, dass solange er Präsident sei, das bestehende Renteneintrittsalter bestehen bleibe. Derzeit schweigt er zu den Vorschlägen seines Regierungschefs.

Viele Experten in Moskau vermuten, dass er Medwedew vorgeschickt habe. Der Ministerpräsident solle die Reaktion auf die geplante Anhebung des Rentenalters antesten. Würde der Widerstand zu groß, könnte Putin zurückrudern oder einen am Ende für alle akzeptablen Kompromiss durchsetzen.

Vergleichsweise frühes Rentenalter

Für europäische Verhältnisse gehen Russen früh in Rente. Was viele Kritiker übersehen: Mit der Pension reicht das Geld kaum zum Überleben. Deshalb arbeiten die meisten älteren Menschen weiter - so lange die Gesundheit mitmacht. Laut offiziellen Statistiken beträgt die durchschnittliche Rente in Russland 13342 Rubel pro Monat. Das sind umgerechnet 180 Euro. Nicht gerade viel.

Dennoch ist dieses finanzielle Polster Vielen wichtig. Es bringt finanzielle Entlastungen und andere soziale Vorteile. Deshalb gehen sie gegen die Rentenreform auf die Straße. Bislang erteilten Behörden Genehmigungen für Proteste in all den Städten, in denen keine WM-Spiele ausgetragen werden. Nach der Weltmeisterschaft dürfte es auch zu Demonstrationen in Moskau oder Sankt Petersburg kommen. Umfragen belegen: Neun von zehn Russen sind gegen ein höheres Rentenalter.

Widerstand gegen Rentenpläne unterschätzt

Offenbar hat die Regierung den Widerstand gegen die Rentenreform unterschätzt. Millionen von Russen treibt die Sorge um, die Rente entweder nicht mehr zu erleben oder kaum noch etwas von ihr zu haben. So beträgt die derzeitige Lebenserwartung von Männern 67,5 Jahre. Gingen Männer erst mit 65 in Rente, würden - statistisch gesehen - viele nur zweieinhalb Jahre eine Pension beziehen.

Russland Simferopol Rentner Pension
Russischer Rentner als Antragssteller beim Pensionsfonds in SimferopolBild: picture-alliance/dpa/S. Borisovskaya

Gemäß staatlichen Statistiken liegt in 47 der insgesamt 83 russischen Regionen die durchschnittliche Lebenserwartung unter 65 Jahren. Viele empfinden die Pläne der Regierung als ungerecht: nach einem langen, arbeitsreichen Leben, den wirtschaftlichen Engpässen zu sowjetischen Zeiten sowie den Umbrüchen in den 1990er-Jahren. Dass die Lebenserwartung in den kommenden Jahrzehnten steigen mag, ist für sie nur ein schwacher Trost.

Beschäftigung ohne Vertrag

Hinzu kommt, dass in 1990er-Jahren Hunderttausende zwar einen Job hatten, aber keinen richtigen Arbeitsvertrag. Die Folge: Abstriche bei der Anrechnung der Pension heute. Für die Unfähigkeit Moskaus, den Übergang vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen Modell halbwegs sozial zu gestalten, würden sie somit ein weiteres Mal "bestraft" und hätten finanzielle Einbußen hinzunehmen. 

Der Unwille unter vielen Russen wächst auch wegen des ungeschickten Taktierens der Regierung. Ministerpräsident Dmitry Medwedew hatte am Vorabend des Beginns der Fußballweltmeisterschaft seine Rentenpläne verkündet. So entstand der Eindruck - und der besteht weiterhin -, dass die Regierung eine äußerst unpopuläre Maßnahme im Dunstkreis der Fußball-Weltmeisterschaft verschleiern will.

Gewerkschaften und Oppositionelle protestieren

Von diesem Fehler versuchen unabhängige Gewerkschaften und Oppositionelle zu profitieren. So waren es Anhänger von Alexej Nawalny, die die Menschen in zahlreichen Städten aufforderten, auf die Barrikaden zu gehen. Zu Protesten rufen auch die linksradikale "Lewy Front" und die liberalen Jawlinski-Anhänger auf. In der sibirischen Stadt Omsk, in Wladiwostok oder in Twer gingen Tausende auf die Straße und forderten den Rücktritt von Putin und der Regierung.

Symbolbild - Sanktionen Russland
Russin in einem SupermarktBild: picture-alliance/RIA Novosti/V. Astapkovich

Der Widerstand gegen die Reformen ist auch Wasser auf die politischen Mühlen der Kommunisten. Deren Führer Gennadi Sjuganow verweist zu Recht darauf, dass das Rating der Regierungsparteien in den letzten Wochen um zwölf Prozent gesunken und das der Kommunisten im gleichen Zeitraum um fünf Prozent gestiegen sei. Die Kommunisten wollen ein landesweites Referendum zu den Rentenplänen der Regierung abhalten. Eine Petition gegen die Pläne haben bislang 2,6 Millionen Menschen unterschrieben.

Was den Kreml bedenklich stimmt: Der Widerstand gegen die Rentenpläne Medwedews vereinigt die parlamentarische und die außerparlamentarische Opposition. Unter den Gegnern auch der im Exil lebenden Oligarch Michail Chodorkowsky.

Ökonomische Faktoren ausgeblendet

Völlig ausgeblendet bei der derzeitigen Diskussion werden volkswirtschaftliche Faktoren. Etwa Russlands demographisches Problem. Es gibt 43 Millionen Rentner. Es gibt immer weniger Beitragszahler und immer mehr ältere Menschen, die vom Staat versorgt werden wollen. Es gibt zu wenige Kinder. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist seit 2005 um sieben Jahre gestiegen.

Seit 2012 erhöhte Präsident Putin die Rente um 40 Prozent, was die Staatskasse belastet. Zu finanzieren ist dies nur, solange die Öl- und Gaspreise hoch sind. Moskau steckt jährlich umgerechnet 45 Milliarden Euro in die Rentenkasse. Belastend wirkt auch, dass die meisten Russen gar nicht erst auf den Gedanken kommen, sich selbst vorsorgen zu müssen. Wie zu sowjetischen Zeiten verlassen sie sich lieber auf den Staat.

Ganz gleich wie die WM für Russland ausgeht: Auf Dauer wird der Kreml den Widerstand gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters kaum ignorieren können.