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Politik

"Gelsenkirchen wird nie ganz rechts, niemals“

26. Februar 2018

In den jüngsten Meinungsumfragen ist die AfD drauf und dran, die SPD bundesweit zu überholen. Auch in der Herzkammer der Sozialdemokraten, im Ruhrgebiet? Ein Ortsbesuch in Gelsenkirchen.

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DW Reportage - Niedergang der SPD in der Herzkammer Ruhrgebiet
Bild: DW/O. Pieper

Als das Gespräch auf die Flüchtlinge kommt, wird Attila Öner wütend. Der SPD-Vorsitzende des Ortsvereins Gelsenkirchen-Erle-Süd steht auf und holt sich ein weißes Blatt Papier. "Ich male Ihnen jetzt einmal 82 Punkte auf das Blatt", sagt der türkischstämmige Inhaber einer Werbeagentur und greift zum Bleistift. Öner malt mit Filzstift dann einen roten Punkt dazu und fragt: "Meinen Sie im Ernst, dass sich für die 82 Punkte, also die 82 Millionen Menschen in Deutschland, etwas ändert, nur weil ein Punkt, also die Flüchtlinge, dazukommt?" Der SPD-Politiker schiebt die Antwort gleich hinterher: "Das ist doch lächerlich."

SPD-Politiker Attila Öner zeigt Blatt Papier
Flüchtlingskrise auf einem Blatt Papier: Attila Öner, SPD-Politiker aus GelsenkirchenBild: DW/O. Pieper

Attila Öner steht symbolisch für den Aufstieg von Migrantenfamilien im Ruhrgebiet. Mit elf Jahren kam er mit seinen Eltern nach Deutschland. Als sie später in die Türkei zurückkehrten, blieb er in Gelsenkirchen. Heute  besitzt Öner eine mittelständische Firma mit über 20 Mitarbeitern im Zentrum der Stadt. Ende der 1990er-Jahre trat er der SPD bei. Jetzt, 20 Jahre später, fragt sich Öner, wieso die Stimmung in seiner Stadt so schlecht ist: "Es ging den Menschen noch nie besser als heute. Und dann hast Du diese Land-unter-Stimmung. Ich verstehe es nicht." Der dreifache Familienvater vermisst das Mitgefühl für die neu Angekommenen. In einer Region, in der die ersten "Gastarbeiter" in den 1960er-Jahren kamen. Und die so wie keine andere in Deutschland geprägt ist von Migration: "Wir sollten jeden Tag dem lieben Gott danken, dass es uns so gut geht, und uns darauf besinnen, dass es Menschen gibt, die Hilfe brauchen."

Vor allem die Mittelschicht hat in Gelsenkirchen AfD gewählt, viele Menschen offenbar aus Angst, den eigenen Status zu verlieren. Und eben nicht mehr Rot die Stimme gegeben, wie zuvor Jahrzehnte lang. Attila Öner räumt selbstkritisch ein: "Wir haben viele Sachen sehr gut gemacht, aber wir bekommen sie nicht transportiert. Unser Marketing muss besser werden." Früher sei auch der Kontakt zwischen der SPD und den Mitgliedern enger gewesen. "Zu meiner Zeit als Schatzmeister sind wir von Haus zu Haus gegangen und die Menschen haben mir 2,50 Mark in die Hand gedrückt. Da war immer ein persönliches Gespräch, ein gemeinsamer Kaffee oder Tee, man hat zusammen gequatscht." Heute gehe alles per Mausklick, per Lastschrift, der enge Kontakt - das, was die SPD im Ruhrgebiet immer ausgemacht habe - sei ein wenig verloren gegangen. Und diese Entfremdung koste Wählerstimmen. Öner lacht: "Wir sollten die Barzahlungen wieder einführen. Damit würden wir den Mitgliederschwund auf jeden Fall stoppen."

Thema 'Soziale Gerechtigkeit‘ nicht eingelöst?

Der stellvertretende AfD-Sprecher des Kreisverbandes Gelsenkirchen, Klaus Nelle, bezweifelt das: "Die SPD hat in den letzten 50 Jahren nicht viel richtig gemacht, sei es bei den Themen Wirtschaft, Kampf gegen die Arbeitslosigkeit oder auch Bildung. Fast überall in den Statistiken ist Gelsenkirchen am Ende." Dies kam seiner Partei zugute: Glatte 17 Prozent holte die AfD bei der Bundestagswahl in Gelsenkirchen, Rang Drei hinter der SPD (33,5 Prozent) und der CDU (22,4 Prozent). Nelles Erklärung für den jüngsten Abstieg der Sozialdemokraten in den Meinungsumfragen: "Wenn Martin Schulz das Fehlen von sozialer Gerechtigkeit beklagt - die SPD war in den letzten 20 Jahren 16 Jahre in der Regierung. Warum haben sie da so wenig getan?"

Klaus Nelle AfD Gelsenkirchen
AfD-Politiker Klaus Nelle sieht für seine Partei noch weiter Luft nach obenBild: DW/O. Pieper

2013 ist Nelle wegen der Griechenlandkrise in die rechtspopulistische Partei eingetreten. Der Fußballtrainer der Spielvereinigung Sterkrade-Nord II hat auch eine Meinung, was die SPD anders machen muss, um an alte Erfolge anzuknüpfen: "Gar nicht so viel. Das, was da gerade passiert, ist ja Demokratie. Es wird diskutiert." Nicht so wie in der Union, wo Kanzlerin Angela Merkel allein den Kurs bestimme. Die AfD will folglich auch die CDU bei der nächsten Bundestagswahl überholen, mit eigenen 20 Prozent plus X. Die SPD indes verfüge in Gelsenkirchen immer noch über eine breite Basis und sei auch in den nächsten Jahren "noch nicht zu knacken", schätzt Nelle.

"Einmal SPD, immer SPD!"

Schauplatz Busbahnhof in Gelsenkirchen-Buer. Alle wichtigen Verkehrslinien aus Gelsenkirchen und der Region sind hier miteinander verknüpft: Hier fährt die Straßenbahn nach Bochum, der Schnellbus nach Bottrop und der Nachtexpress quer durchs Revier. Seit Sommer 2016 ist der Busbahnhof eine Großbaustelle, bis zum Herbst dieses Jahres wird er renoviert. Manfred Ottke wartet gerade auf seinen Bus. Hat er bei der Bundestagswahl die SPD gewählt? "Sie wissen doch, hier heißt es, einmal Schalker, immer Schalker", verweist der 75-jährige Rentner auf den Stolz der Stadt, den Fußball-Bundesligisten Schalke 04. "Und so ist es auch mit den Sozialdemokraten. Einmal SPD, immer SPD! Auch und gerade in schwierigen Zeiten."

Busbahnhof Gelsenkirchen-Buer
Der Zentrale Omnibusbahnhof in Gelsenkirchen-Buer: das Drehkreuz im Revier wird renoviertBild: DW/O. Pieper

Ottke steigt in den Bus, eine Frau mittleren Alters steigt aus. Was hält sie von der SPD? "Das sage ich Ihnen lieber nicht, sonst vergesse ich mich noch!" Einige Meter weiter, im angrenzenden Park, hetzt ein brauner Pudel einer schwarzen Frisbeescheibe hinterher. Geworfen wird die von seinen Besitzern: Dem 47-jährigen Bauarbeiter Stefan und der 35 Jahre alten Polizistin Vicky. Bei der letzten Bundestagswahl hat die SPD ihre Stimme nicht bekommen. Die AfD aber auch nicht, sagt sie. In den vergangenen Jahren habe sich Gelsenkirchen zum Nachteil entwickelt, urteilt Vicky. "Als Frau traue ich mich mit meinem Hund nur noch mit Pfefferspray abends in den Park." Das Thema Sicherheit müsse die Stadt stärker im Auge haben. Inwieweit das mit den Flüchtlingen zu tun habe, könne sie nicht sagen. Nur: "Die Stadt muss viel mehr Gelder für Integration und Fortbildung bereit stellen."

"Ich habe immer die SPD gewählt. Nur einmal die Grünen. Eine Jugendsünde, wird nicht wieder vorkommen", lacht der Alt-Gelsenkirchener Stefan. Sein Rat an die Sozialdemokraten: "Wieder linker werden. Zum Beispiel den Familiennachzug für Flüchtlinge durchsetzen und nicht rechte Positionen übernehmen." Vor Jahrzehnten hätte man sich nie eine Koalition mit der Union vorstellen können, da müsse die SPD wieder hin.

Neue Arbeitswelt im Ruhrgebiet

Das Bürgerbüro der SPD in der Goldsteinstraße 64 ist in Sichtweite des Parks von Gelsenkirchen-Buer. Heike Gebhard, Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Gelsenkirchen und Mitglied des Landtags, nimmt sich Zeit für einen Kaffee. Dass die SPD Schwierigkeiten habe, Wähler zu mobilisieren, hängt für die Politikerin auch damit zusammen, dass sich die Arbeitswelt im Ruhrgebiet sehr verändert habe: "Wir haben kaum noch Großbetriebe. Und wenn es diese Großbetriebe nicht mehr gibt, kann die SPD da nicht mehr hin, um wie früher den Kontakt zur Basis zu pflegen." Außerdem sei die SPD Opfer ihres eigenen Erfolgs, den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen. Die klassische Bindung zwischen Arbeiterklasse und SPD existiere deswegen nicht mehr, weil die Arbeiter von gestern heute ihr Abitur machten und studierten.

SPD-Politikerin Heike Gebhard vor dem SPD-Bürgerbüro in Gelsenkirchen
Glaubt fest daran, dass wieder bessere Zeiten kommen: Heike Gebhard, Vorsitzende des SPD-Unterbezirks GelsenkirchenBild: DW/O. Pieper

Trotzdem ist sich Heike Gebhard sicher, dass die SPD wieder an alte Zeiten anknüpfen kann: "Natürlich nicht wie in den 70er-Jahren mit einem Dreiparteiensystem. Die Ergebnisse bekommen wir definitiv nicht mehr zurück." Aber einige Prozentpunkte schon - wenn es der SPD gelänge, wieder eine typische sozialdemokratische Grundhaltung deutlich zu machen. Gebhard gibt zu: "Ich glaube, das ist das, was die Menschen momentan am meisten vermissen."

34 der 66 Sitze im Gelsenkirchener Stadtrat gehören der SPD. Eine knappe absolute Mehrheit. Was aber nicht bedeutet, dass die SPD mit Oberbürgermeister Frank Baranowski einen einfachen Stand hat. Auch in den nächsten Jahren geht es vor allem darum, keine Leistungen für die Bürger abzubauen - bei einer schwierigen finanziellen Ausgangslage. Zum Beispiel keine Schließung von Bibliotheken und Schwimmbädern wie in anderen Städten. Besonders stolz ist Heike Gebhard auf das Musiktheater im Revier, das in den letzten Jahren dreimal den Kritiker-Preis gewonnen hat: "Es war ein Kunststück, das Musiktheater zu erhalten. Viele haben gesagt, so etwas kann sich eine Stadt wie Gelsenkirchen gar nicht leisten." Neben dem Erhalt und Ausbau des kulturellen Angebots wird sich die SPD auch daran messen lassen müssen, wie weit sie die Stadtentwicklung vorangetrieben hat, glaubt Gebhard.

"SPD soll sich auf das 'S‘ im Namen konzentrieren"

Die Cranger Straße in Gelsenkirchen-Erle. Wäschereien, Apotheken, Nagelstudios - jede Menge kleiner Geschäfte wechseln sich ab an der Hauptverkehrsader des Stadtteils. Die AfD hat in Erle-Süd so viele Stimmen wie nirgendwo sonst in Gelsenkirchen bekommen: 21,5 Prozent. Nur eine Protestwahl? In einer Bäckerei reden sich vier Rentner, von Jahrgang 1939 bis 1947, darüber die Köpfe heiß. "Die SPD ist keine Partie für die Arbeiter mehr", "Politik verdirbt den Charakter" oder auch "Die Union sollte sich mal wieder auf das 'C' und die SPD auf das 'S' in ihren Namen konzentrieren" suchen sie nach Erklärungen für den Aufstieg der rechten Partei und den gleichzeitigen Abstieg der Volksparteien in ihrem Viertel.

"Wir haben ein Vertrauensproblem"

Keiner von ihnen hat die AfD gewählt, zwei haben ihr Kreuzchen - wie immer - bei den Sozialdemokraten gemacht, sagen sie. Trotzdem: "Die Menschen hier im Ruhrgebiet fühlen sich der SPD nicht mehr so verbunden wie früher." Hohe Arbeitslosigkeit, Mangel an Perspektiven, das Thema Sicherheit - die Bürger vermissten konkrete kommunale Lösungen bei drängenden Problemen.

Schwierige soziale Situation 

Swen Beckedahl kennt diese Äußerungen nur zu gut. Der Pastor der katholischen Sankt Barbara-Kirche in Gelsenkirchen-Erle hat sein Ohr nah an der Gemeinde. Aber das Ergebnis bei der Bundestagswahl für Erle-Süd hat den gebürtigen Gelsenkirchener dann doch überrascht: "Ich war schockiert. Wir haben uns dann sofort mit der evangelischen Kirche und dem Bezirksbürgermeister getroffen." Erklären kann sich Beckedahl das Ergebnis indes schon: "Die soziale Situation in Gelsenkirchen ist schwierig. Die Integration vieler EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien hat schlichtweg nicht funktioniert." Die Stadt sei oft hilflos, der Zuzug vieler Menschen aus Osteuropa überfordere die Menschen, mache ihnen Angst.

DW Reportage - Niedergang der SPD in der Herzkammer Ruhrgebiet - Swen Beckedahl
Pastor Swen Beckedahl plädiert für Begegnungen von Migranten und EinheimischenBild: DW/O. Pieper

Hinzu kommt: Gelsenkirchen ist die ärmste Stadt Deutschlands. Nur wenig mehr als 16.000 Euro netto jährlich verdient der Gelsenkirchener im Schnitt. Es kursiert hier der Spruch: Nach Gelsenkirchen zieht niemand, außer er hat dort schon einmal gelebt. Jugendliche haben es schwer, eine adäquate Ausbildungsstelle zu finden und ziehen weg. Dadurch kämpft Gelsenkirchen - wie das ganze Ruhrgebiet - mit der Überalterung der Gesellschaft. Ein kurzer Trip öffne ihm da immer die Augen, meint der Pastor: "Fahren Sie mal nach Münster, das ist 40 Autominuten entfernt. Da denken Sie, Sie leben in einer komplett anderen Welt."

Und doch ist sich Swen Beckedahl sicher: Die AfD wird auch in Zukunft nicht die stärkste Kraft in Gelsenkirchen. Der Rat des Glaubensmannes: Vermehrt Begegnungen und Ängste vor dem Fremden abbauen. Die katholische Kirche praktiziere das schon, sagt Beckedahl: "Alle in unserer Gemeinde, die mit Flüchtlingen zu tun haben, reden ganz anders." Das Fazit des Pastors: "Italiener sind hierher gekommen, Polen und Türken. Die letzte Wahl war ein Protest, ein Hilfeschrei. Gelsenkirchen wird nie ganz rechts, niemals."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur