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Nigerias angebliche Kinder-Hexen

Adrian Kriesch / Jan-Philipp Scholz15. Juni 2016

Es klingt wie im finstersten Mittelalter: Kinder werden als Hexen verfolgt und gefoltert. In Nigeria gibt es noch immer Hunderte solcher Fälle. Adrian Kriesch und Jan-Philipp Scholz haben ein Opfer getroffen.

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Kinder in einem afrikanischen Land stehen abseits beim Spiel, man sieht nur ihre Schatten (Foto: CARL DE SOUZA/AFP/Getty Images)
Bild: Getty Images/AFP/C. De Souza

Joseph (Name geändert) liebt Fußball. Ausgelassen spielt der 10-Jährige mit seinen Freunden auf einem Bolzplatz in der Kleinstadt Eket, im Südosten von Nigeria. Erst als Joseph sein rotes Trikotoberteil auszieht, wird klar, dass er bisher alles andere als eine unbeschwerte Kindheit hatte. Seine Brust und sein Rücken sind übersäht mit großen Narben, mehrere Zentimeter breit.

Viele der Narben sind erst wenige Wochen alt. Sie stammen von jenem Tag, an dem seine Mutter starb. Da nahm sein Stiefvater ein glühendes Messer in die Hand und drückte es ihm minutenlang auf die Haut, erinnert sich Joseph. "Er hat mich auch vorher schon verprügelt. Er hat mir immer gesagt, ich sei ein böser Hexer."

Vom Stiefvater verprügelt, gefoltert und verstoßen

Mehrmals die Woche, wenn er aus der Schule kam, habe sein Stiefvater ein Kabel genommen und ihn damit geschlagen. "Wenn meine Mama versucht hat, das zu verhindern, hat er ihr in den Magen geboxt", sagt Joseph. Als seine Mutter vor wenigen Wochen unerwartet an einer Infektionskrankheit starb, eskalierte die Gewalt des Stiefvaters. Er beschuldigte den Jungen, seine Mutter verhext und getötet zu haben und jagte ihn schließlich fort.

Ein Junge in Nigeria zeigt große Narben auf seiner Brust. Sein Stiefvater hat ihn verletzt, weil er den Jungen der Hexerei beschuldigt - das ist in Nigeria weit verbreitet (Foto: DW/Kriesch/Scholz)
Joesph zeigt die Narben seiner MisshandlungenBild: DW/Kriesch/Scholz

Experten gehen davon aus, dass es pro Jahr noch immer Hunderte Fälle in Nigeria gibt, bei denen Familien ihre Kinder der Hexerei beschuldigen. Oft werden sie missbraucht, in einigen Fällen sogar getötet. Viele der Minderjährigen werden verstoßen und landen auf der Straße. Eine von der Europäischen Union in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, dass die Hexenjagd auf Kinder eine der am meisten vernachlässigten Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre sei. Die grausame Praxis kommt in verschiedenen Ländern Afrikas und auch in Teilen Asiens vor - am häufigsten jedoch in Nigeria. Besonders dramatisch ist die Situation dort im Bundesstaat Akwa Ibom im Südosten des Landes. Dort liegt auch Josephs Heimatort.

Ratgeber für den Kampf gegen Hexen

Die Hexenverfolgung habe leider viel mit jahrhundertealten Traditionen in der Region zu tun, erklärt Arukaino Umukoro. Das Thema lässt den Journalisten der nigerianischen Tageszeitung "Punch" seit Jahren nicht los. Unfälle, Krankheiten, sogar Arbeitslosigkeit und HIV-Infektionen seien in den Augen vieler Dorfbewohner das Machwerk von Hexen. "Diese Weltsicht, übernatürliche Kräfte für das eigene Leid verantwortlich zu machen, ist weit verbreitet", so Umukoro. Der eigentliche Skandal sei jedoch, dass viele lokale Kirchen diesen Aberglauben sogar befeuerten - aus Profitgier.

"Sie erzählen den Leuten: Bringe Dein Kind in mein Gotteshaus und ich heile es innerhalb einer Woche. Allerdings musst Du mich dafür auch bezahlen - für Weihwasser, Heilsalben, Nahrungsmittel und so weiter." Da die meisten Dorfbewohner ungebildet seien, fielen sie auf solche Versprechungen herein. Eine Pastorin habe sogar ein Ratgeberbuch geschrieben, wie sich Kinder-Hexen angeblich identifizieren ließen. "Sie behauptet so unfassbare Dinge wie: Wenn Dein Kind nachts nicht aufhört zu schreien, ist das ein Hinweis, dass es eine Hexe ist", so Umukoro. Kinder nehmen in der Gesellschaft die schwächste Stellung ein und können sich gegen Hexerei-Vorwürfe kaum wehren. Auch deshalb werden sie laut Experten so häufig für Unerfreuliches oder Unerklärliches verantwortlich gemacht.

Happy End nur mit Zauberei

Zahlreiche Kritiker machen nicht nur profitgierige Pastoren sondern auch Nigerias sogenannte "Nollywood-Industrie", wie die lokale Filmproduktion umgangssprachlich genannt wird, für den Missstand mitverantwortlich. In der Tat zeigen viele Nollywood-Produktionen ein erstaunlich unkritisches Verhältnis zur Hexenverfolgung. In den in Nigeria extrem populären Filmen werden häufig Hexen oder andere übernatürliche Kräfte für persönliches Unheil der Figuren verantwortlich gemacht. Ein Happy End ist nur mithilfe magischer Rituale möglich. Die oft ungebildeten Zuschauer verwechselten diese Filme dann mit der Realität, so Journalist Umukoro. Bei seinen Recherchen sei er sogar auf Eltern gestoßen, die nach dem Konsum dieser Filme ihre Kinder auf angebliche "Hexen-Eigenschaften" hin untersuchten. "Nollywood fördert ganz eindeutig solchen Aberglauben", so Umukoros Fazit.

Das Bild zeigt eine Straßénszene in der Kleinstadt Eket im Südosten Nigerias (Foto: DW/Kriesch/Scholz)
Ein Werbeplakat für die Kirche in der nigerianischen Kleinstadt EketBild: DW/Kriesch/Scholz

Träume von einem normalen Leben

Nigerias Regierung ist sich des Ausmaßes des Problems zumindest bewusst. Bereits 2008 verabschiedete das Land verschärfte Gesetze, um Kinder besser vor Hexenverfolgung und Gewalt zu schützen. Bis heute habe es allerdings keine einzige Verurteilung auf Grundlage dieser Gesetze gegeben, beklagen Aktivisten. Immerhin: Im Fall Joseph reagierte die Polizei nach mehrfacher Nachfrage der Deutschen Welle. Sie nahm den Stiefvater zur weiteren Vernehmung in Gewahrsam.

Joseph selbst lebt inzwischen in einem Waisenhaus. Den Verlust seiner Mutter hat er noch lange nicht überwunden. Aber zumindest habe er nun keine Angst mehr vor den Schlägen, erzählt er. Und er kann wieder von einer Zukunft träumen: "Der Sohn einer Freundin meiner Mutter ist Arzt. Das will ich auch einmal werden. Ich habe beobachtet, wie er Kranken hilft - und ich habe gesehen, wie andere ihm ihr Vertrauen schenken."