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Geschichte in Bewegung

Gaby Reucher22. Juli 2013

Experimentell, interaktiv und zielgruppenorientiert wollen sie sein: Acht Berliner Institutionen haben sich vorgenommen, NS-Geschichte nicht nur zu lehren. Sie wollen Schüler mit ihren eigenen Erfahrungen einbeziehen.

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Schriftzug: "Wofür lohnt es sich zu kämpfen" aus der Ausstellung "Jüdisches Museum on Tour" Foto: Gaby Reucher / DW Datum 20.2.2013 bei der Didacta-Messe, Köln
Bild: DW/G.Reucher

Die bunten Kästen machen neugierig. Wer wissen will, was drin ist, muss einen Blick hinein werfen. In einer der gelben Holzkisten liegen zum Beispiel Boxhandschuhe. Aber was bitte schön haben die mit dem Judentum zu tun? Genau das sollen Schülerinnen und Schüler erfragen, die die mobile Ausstellung "Jüdisches Museum on.tour" an ihrer Schule besuchen. Über Tablet-PCs erfahren sie, dass die Boxhandschuhe dem Boxer Manfred Joachim gehörten: einem Juden, der sich immer wieder gegen die Anordnungen der Nationalsozialisten wehrte, aber den Holocaust überlebte.

Auch in den anderen Kästen verbergen sich Gegenstände und Informationen zur jüdischen Lebensweise. Es geht um religiöse Rituale, um Essgewohnheiten oder um die Frage: Was heißt es eigentlich, deutsch zu sein? "Wir wollen zeigen, dass es nicht nur um Nationalsozialismus und Holocaust geht, sondern darum, wie Judentum heute in Deutschland gelebt wird", sagt Cornelia Liese. Sie gehört zum 12-köpfigen Team, das das mobile Museum begleitet und zusammen mit Lehrern und Schülern Workshops zur Ausstellung erarbeitet.

Cornelia Liese, Ausstellungsbegleiterin "Jüdisches Museum on Tour" Foto: Gaby Reucher / DW
Cornelia Liese und die legendären BoxhandschuheBild: DW/G.Reucher

Zivilcourage ist auch heute wichtig

Bereits seit sieben Jahren gibt es das Jüdische Museum Berlin "on.tour". In diesem Jahr ist es Teil eines größeren Projekts, das sich "Geschichte in Bewegung" nennt. Zum 80. Jahrestag der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten haben sich acht Berliner Institutionen aus der Antirassismus-Arbeit zusammengefunden, um spezielle Bildungsangebote zu entwickeln. Schüler können mit ihrer Hilfe Themen zu NS-Zeit und Erinnerungspolitik, aber auch zu Demokratieverständnis und Toleranz erarbeiten.

Mit dabei ist auch der Berliner Verein "Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland". Der Verein koordiniert das Projekt "Geschichte in Bewegung" und bietet selbst Führungen in mehreren Sprachen an, darunter auch auf Hebräisch. Diese Führungen werden besonders von Schulgruppen aus dem Ausland wahrgenommen. "Wir schlagen die Brücke von der Verfolgung der Juden unter den Nazis zu der Frage, was ist denn eigentlich Zusammenhalt und Respekt heute", erläutert Verena Deventer, Projektmitarbeiterin der Ausstellung "7 x jung: Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt". Die eigene Ausstellung des Vereins "Gesicht zeigen" ist keine Ausstellung im herkömmlichen Sinne, sondern ein interaktiver Lernort für Toleranz und Zivilcourage.

Prospekt zum Projekt "Geschichte in Bewegung" Foto: Gaby Reucher / DW
Hintergrundmaterial zum Thema für interessierte SchulenBild: DW/G.Reucher

Das eigene Verhalten kritisch hinterfragen

Bei den kombinierten Bildungsangeboten des Netzwerks "Geschichte in Bewegung" gibt es drei Tagesprogramme, die je nach Themenschwerpunkt unterschiedliche Orte aufsuchen. Das müssen nicht nur Ausstellungen, Museen oder Gedenkstätten sein, sagt Verena Deventer: "Wenn ein Lehrer vorgibt, bei uns ist jetzt Mobbing das Thema, dann wird das thematisiert. Dann machen wir zum Beispiel einen Spaziergang durch ein authentisches Viertel in Berlin, wo man ganz anders mit den jeweiligen Kulturen vor Ort in Berührung kommt." Auf diese Weise könnten eigene Vorurteile abgebaut werden.

Auch beim Jüdischen Museum "on.tour" spielen heutige Erlebnisse und Erfahrungen von jungen Leuten eine große Rolle. In einigen der bunten Kästen sind Videos zu sehen, in denen jüdische Jugendliche zum Beispiel über ihre Ängste sprechen. "Ein jüdisches Mädchen aus Dresden erzählt, dass sie einen bestimmten Stadtteil meidet, weil er als Hochburg für Rechtsextremisten gilt", erläutert Cornelia Liese. "Aber seit sie sich gegen Rassismus engagiert, ist sie mutiger geworden." Solche Geschichten sollen bei den Schülern nicht nur zur Diskussion anregen, sondern auch dazu, das eigene Verhalten zu hinterfragen.

jüdische Jugendliche im Video der Ausstellung "Jüdisches Museum on tour" Foto: Gaby Reucher / DW Datum 20.2.2013 bei der Didacta-Messe, Köln
In Videos erzählen Jugendliche von ihren ErfahrungenBild: DW/G.Reucher

Aus Erfahrung lernen

Der eigene Zugang der Schüler zu Themen wie Diskriminierung und Ausgrenzung ist allen Akteuren des Netzwerkes "Geschichte in Bewegung" wichtig. Die Geschehnisse im Nationalsozialismus werden nicht - wie im Schulunterricht oft üblich - von der heutigen Lebenswelt der Jugendlichen abgekoppelt behandelt. Das Wissen um die historischen Ereignisse soll dazu beitragen, sich für Themen wie Diskriminierung und Ausgrenzung zu sensibilisieren und selbst gegen Rassismus aktiv zu werden.

"Wir zeigen, was es in einer Diktatur für Möglichkeiten von Zivilcourage gibt und wie man sich heute couragiert in der Gesellschaft engagieren kann", betont Verena Deventer. So wie es der Boxer Manfred Joachim Zeit seines Lebens vorgemacht hat. Als Junge riss er sich den Davidstern von der Jacke. Als Rentner war er dann von 2001 bis zu seinem Tod 2009 als Zeitzeuge für das Jüdische Museum in Berlin tätig und erzählte jungen Leuten von seinen Erfahrungen.

Ausstellungswand bei "Jüdisches Museum on tour" Foto: Gaby Reucher / DW Datum 20.2.2013 bei der Didacta-Messe, Köln
Toleranz der ReligionenBild: DW/G.Reucher