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Gespaltener Arbeitsmarkt in Deutschland

Christoph Köhler1. Mai 2013

Deutschland ist bislang gut durch die Krise gekommen - das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Und trotzdem ist dieser tief gespalten. Ein Gastbeitrag des renommierten Soziologen Christoph Köhler.

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Menschen gehen an einem Schild der "Agentur für Arbeit" vorbei. (Foto: Julian Stratenschulte)
Bild: picture-alliance/dpa

Wir haben es in Deutschland heute mit einer doppelten Spaltung unserer Gesellschaft zu tun. Einmal zwischen Personen mit hohen und geringen Vermögen (oder sogar Schulden) - hier hat sich die Schere deutlich auseinander entwickelt. Die zweite Spaltung zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt zwischen "primären" und "sekundären" Positionen. Letztere sind solche, wo Arbeitnehmer Niedriglöhne beziehen, unsichere Arbeitsverträge haben oder arbeitslos sind. Dieses Segment ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark gewachsen.

Chancen für gut Qualifizierte

Ich erwarte, dass sich aufgrund des demografischen Wandels die Arbeitsmarktlage im primären Segment verbessern wird. Wir stehen am Anfang eines Prozesses der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge, der auf schrumpfende Nachwuchskohorten trifft. Wie sich an der stabilen Lage Deutschlands trotz der Krisen in Südeuropa zeigt, ist die Wirtschaft auf den Weltmärkten stark positioniert. Die Arbeitsmarktchancen für gut qualifizierte Personen werden sich aus diesen Gründen verbessern. Die weit verbreitete Zukunftsangst vieler junger Menschen ist unberechtigt. Es gibt keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken und wir können und sollten wieder mehr über alternative Lebensentwürfe (mit Auszeiten für Familie, Bildung oder ganz andere Leidenschaften) und politische Alternativen (für soziale und ökologische Probleme) nachdenken.

Prof. Dr. Christoph Köhler, Direktor des Instituts für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Foto: Christoph Köhler)
Prof. Dr. Christoph Köhler, Direktor des Instituts für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität JenaBild: Köhler

Wenig Hoffnung für Geringverdiener

In Bezug auf das sekundäre Arbeitsmarktsegment gehe ich eher von pessimistischen Prognosen aus. Der Ausbau eines Sektors mit niedrigen Löhnen und atypischen Arbeitsverträgen begann - auch in Westdeutschland - bereits Mitte der 1990er Jahre und setzte sich über mittlerweile zwei Konjunkturzyklen fort. Die verbesserte Arbeitsmarktlage zeigt sich daran, dass dieser Prozess seit 2007 auf einem hohen Niveau zum Stillstand gekommen ist, während gleichzeitig die Arbeitslosigkeit zurückging. Eine Entwarnung kann aber nicht gegeben werden, denn das sekundäre Arbeitsmarktsegment mit Niedriglöhnern und drei Millionen Arbeitslosen macht heute immer noch rund elf Millionen Personen aus. Die Armutsquote liegt seit 2007 konstant bei 15 Prozent.

Dieses sekundäre Arbeitsmarktsegment wird nicht wesentlich von der oben beschriebenen demografischen Entwicklung profitieren. In den Jahrzehnten der Unterbeschäftigung ist ein großes gering- oder fehlqualifiziertes Arbeitskräftepotenzial entstanden, das durch Absolventen mit schlechten Bildungsabschlüssen kontinuierlich aufgeladen wird. Dies trifft auf einen stagnierenden oder sogar schrumpfenden Sektor der Einfacharbeit, der nicht dazu in Lage ist, dieses Arbeitskräftepotenzial zu absorbieren.

Gift für die Gesellschaft

Ein sekundäres Arbeitsmarktsegment dieser Größenordnung ist Gift für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt. Auf dem Nährboden von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Unterschicht verfestigt, deren Mitglieder nur geringe Chancen auf einen Aufstieg in bessere Positionen haben. Hier kumulieren sich gesundheitliche und soziale Risiken mit Einkommens- und Altersarmut und diese werden an die Kinder weitergeben. Der Verweis auf die Migrationsbevölkerung ist irreführend, denn der größte Teil der Unterschicht ist alt-deutscher Herkunft.

Der Gesellschaft insgesamt entstehen hohe Folgekosten in den Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystemen. Außerdem erzeugt ein sekundäres Arbeitsmarktsegment dieser Größenordnung Abstiegsängste bei der Mittelschicht und politische Apathie in der Unterschicht. Beides tut unseren demokratischen Institutionen nicht gut.

Kontroverse Positionen

In der Problemdiagnose sind sich viele Beobachter aus Wissenschaft und Politik heute einig. Auch bildungspolitische Ansätze zum Ausbau der Kindertagesstätten und integrierter Ganztagsschulen werden heute von allen politischen Lagern (mehr oder weniger deutlich) geteilt, allerdings nicht konsequent umgesetzt. Teile der Mittelschicht sehen in Umverteilungsdiskussionen zugunsten sozial benachteiligter Kinder eine Verschlechterung der Bildungschancen ihres eigenen Nachwuchses auf sich zukommen und pochen auf ein segregiertes Bildungssystem. Politiker befürchten Stimmenverluste und die hohen Kosten eines konsequenten Aus- und Umbaus des Bildungssystems.

Kontrovers sind die Positionen zur Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Die eine Seite möchte die Sozialleistungen für Erwerbslose verbessern, gleichzeitig für die Beschäftigten Mindestlöhne einführen und die Nutzung atypischer Arbeitsverhältnisse stark einschränken. Die andere Seite geht davon aus, dass durch die mit der Re-Regulierung verbundene Verteuerung der Arbeit die Arbeitslosigkeit wieder zunehmen wird. Die Devise lautet hier: besser eine schlechte Arbeit als keine Arbeit.

Vorbild aus Schweden

Bei einer konsequenten Umsetzung der Re-Regulierungspolitik für Erwerbslose und prekär Beschäftigte sind durchaus Jobverluste möglich. Ich halte die Vorschläge gleichwohl für hilfreich. Erstens kann man in einem vorsichtigen Experimentierprozess langsam die Schrauben anziehen und so Beschäftigungsverluste gering halten. Zweitens sind deren Folgen gegen die oben benannten hohen gesellschaftlichen Kosten des sekundären Arbeitsmarktsegments insgesamt abzuwägen. Drittens könnte man öffentliche Beschäftigung wieder ausbauen, statt zu sie privatisieren und so neue Arbeitsplätze schaffen.

Dass ein solches Modell unter mit Deutschland vergleichbaren ökonomischen Rahmenbedingungen gut funktionieren kann zeigt Schweden. Vorausgesetzt ist allerdings ein Prozess der Umverteilung von Vermögen und Einkommen, der gegen Kapitalbesitzer, Besserverdienende und Politiker durchzusetzen ist. Hierbei können und sollten die Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen.

Prof. Dr. Christoph Köhler ist Direktor des Instituts für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Struktur und Dynamik des Arbeitsmarktes sowie betriebliche Beschäftigungssysteme und Arbeitsmarktsegmentation im internationalen Vergleich. Darüber hinaus forscht er zu den Themen Arbeitsmarktflexibilität, Beschäftigungsrisiken und soziale Sicherheit.

Literaturhinweise:

Alexandra Krause, Christoph Köhler (Hg.): Arbeit als Ware - Zur Theorie flexibler Arbeitsmärkte. Transcript Verlag, Bielefeld 2012.

Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung - Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2000