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Politik

"Gezielte homophobe Hetze in Russland"

Elina Ibragimowa
17. Mai 2017

Der 17. Mai ist der Internationale Tag gegen Homophobie. Im DW-Interview erläutert die Historikerin Irina Roldugina, wie Homophobie in Stalins Russland entstand und wie sie unter Präsident Putin instrumentalisiert wird.

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Berlin LGBT Demonstration gegen Übergriffe auf Schwule in Tschetschenien
Bild: picture-alliance/Zuma Press/J. Scheunert

Deutsche Welle: Frau Roldugina, wie ist es in Russland zur weit verbreiteten Intoleranz gegenüber Homosexuellen gekommen?

Irina Roldugina: Homophobie ist ein sehr komplexes Phänomen. Sie hat viele Ursachen und hängt von vielen Faktoren ab. Wenn man das Mittelalter und die frühe Neuzeit in Russland mit dem damaligen Europa vergleicht, dann stellt man fest, dass Europa viel homophober war. Auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gab es in Russland weder Todesurteile wegen Sex unter Männern noch irgendwelche großen Skandale und aufsehenerregende Gerichtsprozesse wie in Europa.

Jedoch sollte man daraus nicht den Schluss ziehen, Russland sei besonders tolerant. In den Weiten des Landes gab es einfach nicht solche Möglichkeiten zur Kontrolle. Die heutige Form der Homophobie in Russland bildete sich meiner Meinung nach seit der Stalin-Zeit heraus. Sie ist eng mit Gefangenenlagern und Hierarchien hinter Stacheldraht verbunden, also mit der Lager-Vergangenheit des Landes. Damals waren die Menschen, die in Stalins Lager gerieten, erstmals in größerem Ausmaß mit - meist gewalttätigen - gleichgeschlechtlichen Kontakten konfrontiert.

Welche Politik verfolgte Stalin gegenüber Homosexuellen?

Josef Stalin führte im Jahr 1934 den Artikel wieder ein, der Sex unter Männern unter Strafe stellte. In dieser Zeit wurden auch Abtreibungen verboten und Scheidungen erschwert. Interessant ist, dass im Gegensatz zur damals öffentlich und lautstark geführten Anti-Abtreibungs-Kampagne der Artikel zum Verbot von Sex unter Männern von der Öffentlichkeit fast unbemerkt eingeführt wurde. Homosexuelle in Moskau und Leningrad wurden von der sowjetischen Geheimpolizei massenweise festgenommen.

Aber die sowjetische Staatsmacht hat sich weder in den 1930er Jahren noch danach zum Ziel gesetzt, alle Homosexuellen zu vernichten oder in Lager zu stecken, so wie es in Nazi-Deutschland war. Die Homosexualität von Menschen war ein weiterer Hebel, sie unter Druck setzen zu können. Das nutzte das sowjetische Regime ausgiebig aus, so auch der KGB, um ausländische Diplomaten und Studenten zu erpressen oder des Landes zu verweisen. Einen Strafartikel gegen Frauen gab es in der Sowjetunion nicht. Aber Homosexualität unter Frauen galt als Krankheit. Lesben kamen in Zwangsbehandlung und wurden von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Historikerin Irina Roldugin
Die Historikerin Irina Roldugina setzt sich für die Rechte von Homosexuellen in Russland einBild: DW/E. Ibragimova

Nach dem Ende der Sowjetunion wurden in Russland 1993 homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen legalisiert. Präsident Wladimir Putin hat keine Strafen für Sex unter Männern eingeführt - sehen Sie trotzdem Parallelen zwischen Putin und Stalin?

Putin hat zwar keinen Strafartikel eingeführt, aber er lässt sich von einer ähnlichen Logik leiten. Das jetzige Gesetz gegen "Schwulenpropaganda" beinhaltet den Gedanken, Homosexualität sei etwas Kriminelles und Krankhaftes. Man müsse sich ihrer schämen und sie verstecken. Nach offen zugänglichen Quellen haben Homosexuellen-feindliche Straftaten zugenommen.

Aber umfassende Statistiken über solche Straftaten gibt es in Russland gar nicht. Erstens werden solche Straftaten selten angezeigt und zweitens sieht die Polizei oft kein "Hassmotiv". Mit dem Gesetz will man die Gesellschaft polarisieren und "minderwertige" Gesellschaftsgruppen brandmarken. Man richtet niedrigste menschliche Instinkte - unter dem Deckmantel "traditioneller Werte" - gegen die empfindlichsten Bevölkerungsgruppen. Homophobie ist für die Staatsmacht ein praktisches Mittel, innerhalb des Landes Hass zu schüren.

Am 17. Mai 1990 beschloss die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel für Krankheiten zu streichen. Warum ist in Russland Homophobie immer noch so verbreitet?

Die Haupteigenschaft von Homophobie ist, dass sie Hass erzeugt, manchmal in sehr schrecklichen Formen. Aber man kann sie durchaus bekämpfen. Sie ist nicht "angeboren". In Holland wurden einst homosexuelle Kontakte mit dem Tod bestraft. In den USA, wo Menschen gleichen Geschlechts heiraten, gibt es keine Anzeichen dafür, dass das Land am Abgrund des Höllenfeuers steht. Im Gegenteil, die Gesellschaft ist lebendiger und freier.

Ich glaube, wenn es in Russland keine gezielte homophobe Hetze gäbe, die Polizei professioneller und weniger korrupt und die Schulen aufklärungsfreundlicher wären, würden wir nicht über Homophobie in der russischen Gesellschaft reden, sondern über Homosexualität als etwas Selbstverständlichem. Wir haben in Russland eine spezifische Staatsmacht. Hass ist für sie ein ideales Mittel, um die eigenen Positionen zu halten.

Irina Roldugina ist eine russische Historikerin. Sie ist Dozentin für Geschichte an der Hochschule für Wirtschaft (Higher School of Economics University) in Moskau, eine der größten russischen Universitäten. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Geschlechtergeschichte.

Das Gespräch führte Elina Ibragimowa.