1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Gibt es eine Ost-West-Spaltung der EU?

Barbara Wesel
29. Dezember 2021

Streit über Rechtsstaatlichkeit, LGBT-feindliche Gesetze oder Migration - die Politik in einigen Ländern Osteuropas widerspricht europäischen Grundwerten. Viele machen sich Sorgen über eine Ost-West-Spaltung der EU.

https://p.dw.com/p/44Ewy
Polen Warschau | Pressekonferenz: Antrittsbesuch von Bundeskanzler Scholz in Polen
Antrittsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Warschau bei Polens Ministerpräsident Mateusz Jakub MorawieckiBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Im Sommer stellte Frankreichs Präsident Macron fest, die anhaltenden politischen Probleme in der EU mit einigen der Osteuropäer seien "kein Viktor-Orban-Problem (…) das ist ein Problem, das tiefer geht". Er sprach von einer fundamentalen "Ost-West-Spaltung" in Europa. Beim jüngsten Antrittsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Warschau schien sich die Diagnose erneut zu bewahrheiten. Er wurde von regierungsamtlichen Plakaten begrüßt, auf denen Angela Merkel und andere deutsche Politiker in einer Reihe mit Adolf Hitler und NS-Propagandaminister Joseph Goebbels erscheinen. Gleichzeitig wird der Bundesrepublik "Rechtlosigkeit" vorgeworfen, weil sie angeblich Polen keine Kriegsreparationen zahlen wolle. Die Provokation ist unverhüllt. 

Wie hart ist die Front der Illiberalen?

Als im Sommer der populistische Slowene Janez Jansa die rotierende Ratspräsidentschaft der EU übernahm, sahen einige Beobachter schwarz. Jansa nennt Viktor Orban seinen Freund, verfolgt Journalisten mit Beleidigungen auf Twitter und liebt die Provokation. Gleich zum Auftakt gab es dann auch einen Eklat, weil Jansa unliebsame slowenische Richter in einer Fotomontage quasi mit Zielscheiben versehen hatte.

Slowenien  Ljubljana Anti-Regierungs-Proteste
Sloweniens Premier Janez Jansa wird von anhaltenden Protesten gegen seine Regierung begleitetBild: BORUT ZIVULOVIC/REUTERS

Aber danach verlief sein Vorsitz weitgehend unauffällig, der politische Apparat der EU konnte den Slowenen weitgehend umfahren. Im Streit mit Ungarn um ein Gesetz, das Homosexualität diskriminiert, schlug sich Jansa allerdings auf Orbans Seite, ebenso wie im Kampf mit Brüssel um den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Polen. "Ich denke, dass die ganze Haltung dieser Allianz sehr anti-europäisch ist. Sie zeigt Anzeichen für die Etablierung von einer Art neuem eisernen Vorhang", sagt Marko Milosavljevic, Professor für Medienkunde an der Uni Ljubljana. Aber Jansas Minderheitsregierung sitzt nicht besonders fest im Sattel. Im Frühjahr gibt es Wahlen, bei denen sich die Opposition gute Chancen ausrechnet.

Auch die jüngsten Wahlen in Prag haben gezeigt, dass Populisten abwählbar sind. Premier Andrej Babis wurde von einer Europa-freundlichen Allparteien-Koalition abgelöst. Auch in Bulgarien klappte es im dritten Anlauf, eine eher pro-europäische Koalition auf die Beine zu stellen. Und in Rumänien konnten die Sozialdemokraten in der Regierungskoalition mit EU-feindlichen Initiativen bisher noch keine Gewinne machen.

Politikexperte Stefan Lehne von Carnegie Europe folgert daraus, dass die Krise der EU sich weitgehend auf Polen und Ungarn konzentriert und "nicht typisch ist für die Region insgesamt. Abgesehen von dieser ganz spezifischen eskalierenden Situation kann man nicht davon sprechen, dass sich die Situation zwischen Ost und West verschlechtert hat." Auch glaubt er, dass der Wiederaufbaufonds eine positive Wirkung gegen eine Ost-West Spannung entfalten kann.

Ungarn als Speerspitze der Illiberalen

Als der US-Präsident Mitte Dezember seinen Demokratie-Gipfel abhielt, war ein EU-Land nicht geladen: Ungarn. Joe Biden hatte es sogar schon zu den weltweiten Schurkenstaaten gezählt. Und die neu formierte Opposition im Land nutzt den peinlichen Ausschluss zu einem Angriff gegen Viktor Orbans Regime. Sein Herausforderer Peter Marki-Zay erklärte, die "internationale Gemeinschaft behandelt Orban wie einen Virus". Er habe lange und hart daran gearbeitet, indem er enge Beziehungen vor allem zu China, Russland und Aserbaidschan suchte. 

Polen I Treffen der europäischen Rechtsextremisten in Warschau
Viktor Orban hofiert Marine Le Pen - Führerin des rechtsextremen Rassemblement Nation in Frankreich Bild: Wojtek Radwanski/AFP

Orban bekennt sich zu einer Regierungsform die er "illiberale Demokratie" nennt. Damit verbunden ist ein steter Kulturkampf gegen die vorherrschenden Werte der EU. "Wir haben die schiffbrüchige liberale Demokratie mit einer christlichen Demokratie des 21. Jahrhunderts ersetzt", die Tradition und Sicherheit zum Ziel habe, erklärte der Premierminister. Der strategische Fehler vor allem der deutschen Christdemokraten war es, Orban jahrelang den Aufbau seines autokratischen Staates unter dem schützenden Mantel der EVP zu erlauben, der stärksten Fraktion im Europaparlament.  

Hinter dem Rücken dieser Schutzmacht baute er Ungarn zu einem "captured state" um, zerstörte die Medienfreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz, die institutionellen Sicherungen und die Freiheit der Zivilgesellschaft. Ein unablässiger Strom staatlicher Propaganda soll die Bevölkerung indoktrinieren und Rechtfertigung nach außen liefern. Ungarn wurde zu einem Anziehungspunkt für Rechtspopulisten aus aller Welt - von Marine Le Pen aus Frankreich bis zum früheren US-Vizepräsidenten Mike Pence.

Droht der Polexit?

Trotz in der EU heftig beklagten demokratischen Defizite durfte Polen an Präsident Bidens jüngstem Demokratiegipfel teilnehmen. Vielleicht, weil der autokratische Umbau des Staates dort noch nicht so weit voran geschritten ist? Jedenfalls benutzt die regierende PiS-Partei seit ihrer Machtübernahme 2015 erkennbar die Blaupause aus Budapest: Die Demontage der Medienfreiheit, die Aushöhlung der unabhängigen Justiz, der Kulturkampf gegen Homosexuelle und ein Abtreibungsverbot - alles begleitet  von einem schrillen Nationalismus.

Luxemburg Schild des Europäische Gerichtshofs
Der Streit um den Vorrang von EU-Recht hat die politische Krise mit Polen verschärftBild: Arne Immanuel Bänsch/dpa/picture alliance

Zum großen Krach aber kam es im Oktober, als das polnische Verfassungsgericht urteilte, dass polnisches Recht Vorrang habe vor EU-Recht. Damit zerschnitt Warschau juristisch und politisch das Tischtuch mit Brüssel und es wurde die Frage gestellt, ob Warschau etwa den Polexit plane, den Ausstieg aus der EU. Jaroslaw Kaczynski dementierte dies umgehend und pro-europäische Massendemonstrationen zeigten, das die öffentliche Meinung in Polen noch nicht so gleichgeschaltet ist, wie die PiS-Partei hoffen mag. 

Dem vorangegangen war in den letzten Jahren eine Flut Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gegen Warschau, insbesondere gegen Änderungen im Richterrecht, die die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Das gilt für die politische Neubesetzung des Verfassungsgerichtes wie die umstrittene Richter-Disziplinarkammer. Inzwischen hat das Gericht in Luxemburg Polen zu einem Strafgeld von einer Million Euro täglich verurteilt, weil die Regierung der Pflicht nicht nachkommt, sie abzuschaffen.

Finanzieller Druck wirkt - vielleicht

"Es ist eine Illusion zu glauben, dass man Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von Brüssel aus verordnen kann", sagt Stefan Lehne, das sei nur durch demokratische Wahlen zu erreichen. Und da sieht er einen Hoffnungsschimmer, weil in beiden Ländern die großen Städte mittlerweile in der Hand der Opposition seien. Auch gebe es mit Marki-Zay "in Ungarn (...) jetzt einen plausiblen Gegenkandidaten zu Orban und die Umfragen schauen nicht schlecht aus".

Darüber hinaus müsse Europa seine Instrumente effektiv einsetzen, nicht nur wie bisher juristisch sondern jetzt auch durch finanzielle Sanktionen. "Der große Hammer ist der Zugang zu den Mitteln des Wiederaufbaus". Vor Mitte nächsten Jahres werde da wohl kein Geld an Warschau fließen, denn die nötigen Kompromisse würden vom als Hardliner geltenden Justizminister blockiert. Und in Ungarn wolle sich Viktor Orban vor den Wahlen überhaupt nicht bewegen.

Trotz eines gewissen Optimismus also, was die Wirkung von finanziellem Druck angeht, sieht der Politologe "eine beträchtliche Gefahr", die Lage im Kampf um die Rechtsstaatlichkeit könne eskalieren. Wenn etwa Polen anfangen würde, die gemeinsame  Gesetzgebung zu blockieren, beginnend beim Klimawandel, "dann hat die EU ein sehr großes Problem". Im Augenblick aber befinde man sich noch in der "interessanten Phase zwischen Eskalation und gewissen Kompromissen, die die Sache wieder entschärfen könnten". Das Erpressungspotential scheint jedenfalls auf beiden Seiten beträchtlich.