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"Gleis 11": Deutschlands erste "Gastarbeiter"

Philipp Jedicke
16. Februar 2021

Regisseur Çağdaş Yüksel hat sich mit dem Film "Gleis 11" einen Traum erfüllt. Darin erzählt er die Geschichte der ersten Einwanderergeneration.

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Einige der alten Familienfotos, die im Film "Gleis 11" gezeigt werden
Glückliche Momente, festgehalten in alten Fotoalben: Bilder aus dem Leben der ersten EinwanderergenerationBild: Cocktailfilms

Das Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof. Hier kam damals ein Großteil der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Deutschland an. Damals, das war zwischen 1955 und 1973. Um die Maschinerie des deutschen Wirtschaftswunders am Laufen zu halten, wurden dringend Arbeiter benötigt. Denn ein Teil der männlichen deutschen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter fehlte - aufgrund von Tod, Gefangenschaft oder anderen Folgen des Zweiten Weltkrieges. Also wurden mit mehreren Ländern Anwerbeabkommen geschlossen, die dafür sorgen sollten, dass der Strom an arbeitsfähigen Männern - und später auch Frauen - nicht abriss. 

Aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei und fünf weiteren Ländern machten sich während dieser 18 Jahre abertausende Menschen auf den Weg in ein ihnen unbekanntes Land. Ohne Internet, ohne soziale Medien - die einzige Verbindung zur fernen Heimat waren Münztelefone, wenn überhaupt. Der Großteil der Kommunikation mit den Verwandten und Freunden im Herkunftsland lief über Briefe und Päckchen, die teilweise Wochen brauchten, bis sie ankamen. 

Making of Film "Gleis 11"
Çağdaş Yüksels Großmutter (links) kurz nach ihrer Ankunft mit ihrem Mann und sechs ihrer KinderBild: Cocktailfilms

Es kamen Menschen

2021 blickt Deutschland auf das 60. Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei zurück. "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen", sagte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1965 über diese Zeit. In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem der Film entstand, hat heute rund ein Drittel der Menschen Einwanderungsgeschichte

Die Ersten, die damals kamen, sind heute alt, teilweise sehr alt. Viel wurde geschrieben über ihre Kinder und ihre Enkel: Die zweite und die dritte Einwanderergeneration waren und sind Thema unzähliger Talkshows, Filme und Dissertationen. Doch die Ersten - die, die damals vom Bahnsteig quasi direkt in den Schacht fuhren oder in die Näherei kamen - über sie wurde wenig gesprochen. Vor allem kamen sie so gut wie nie selbst zu Wort in deutschen Medien.

Thema als "irrelevant" abgeschmettert

Çağdaş Yüksel will das ändern. Er selbst gehört zur dritten Generation türkischer Einwanderer. Seine Großeltern kamen als sogenannte Gastarbeiter, und wie viele andere blieben sie in Deutschland. Sein Opa verstarb früh bei einem Verkehrsunfall. Das Schicksal seiner Großmutter, die allein in einem fremden Land acht Kinder großzog, berührte Çağdaş so sehr, dass er entschied, ihr und ihrer Generation ein filmisches Denkmal zu setzen und "diese Generation selber sprechen zu lassen" - auf Augenhöhe, wie er im DW-Interview erzählt.

Making Of-Szene aus "Gleis 11": Ein Filmteam dreht einen älteren Herrn, der an einem Tiscjh in einem türkischen Lokal sitzt
Zeugnis ablegen: Osman, einer der ersten türkischen "Gastarbeiter", während des DrehsBild: Cocktailfilms

Doch zunächst sah es so aus, als würde es sein Film "Gleis 11" nie auf die Leinwand schaffen. "Irrelevant", "kein Stoff fürs Kino": Diese und ähnliche Aussagen von Redaktionsmitgliedern und anderen entscheidungsbefugten Personen warfen Çağdaş immer wieder zurück, aber sie hielten ihn nicht davon ab, an seinem Projekt über Jahre festzuhalten. "Weil ich einfach in mir wusste - jedes Mal, wenn ich mit diesen Menschen gesprochen habe - dass da so viele spannende, unerfüllte Geschichten drin steckten, die man perfekt im Kino erzählen kann." Er wollte beweisen, "dass diese Menschen und diese Geschichten es wert sind, erzählt zu werden", so Yüksel gegenüber der DW. Und er hielt durch - "mit vielen Tränen, Geduld und Kaffee", wie er bei der Premiere seines Films erzählt. Die nötige Unterstützung fand er schließlich im Rahmen der Integrations- und Wertschätzungskampagne #IchDuWirNRW des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und in Person von Serap Güler, der Staatssekretärin für Integration.

Fünf Geschichten, erzählt von den Zeitzeugen 

"Gleis 11" beginnt mit O-Tönen deutscher Passanten aus Reportagen jener Anfangszeit des Anwerbeabkommens: "Die sind zu viele hier", heißt es da. Oder: "Die wollen ja nur das Geld verdienen, aber nicht arbeiten." Aber auch: "Ich glaube nicht, dass wir ohne Gastarbeiter auskommen werden." 

Der Film erzählt fünf Geschichten parallel: die von Çağdaş Yüksels Großmutter Nezihat, die 1970 mit vier Töchtern im Zuge des Familiennachzugs aus der türkischen Provinz nach Mönchengladbach kam und später einen eigenen kleinen Laden hatte, wie sie früh ihren Mann verlor und dann acht Kinder alleine großziehen musste. Osman wiederum kam 1963 aus dem Norden der Türkei, arbeitete zunächst in Essen unter Tage und eröffnete später das erste türkische Restaurant vor Ort. Der fröhliche Süditaliener Bartolomeo erzählt in "Gleis 11", wie er in Deutschland "eine schöne Frau" und sein Glück fand. Die Griechin Marina kam über München nach Nordrhein-Westfalen und berichtet - noch immer etwas peinlich berührt - wie sie die Banane aus der Willkommenstüte aus dem Zugfenster warf, weil sie einfach nicht wusste, wie man sie aß. In einer der bewegendsten Szenen des Films kehrt das Ehepaar Eşref und Ayşe nach 49 Jahren zurück in ihre Heimat im Süden der Türkei.

Unerschütterlicher Optimismus

All diese kleinen und großen Geschichten aus dem Leben jener Menschen erzählt der Film ganz unaufgeregt, mit den Worten seiner Protagonistinnen und Protagonisten, was ihn ungemein authentisch macht. Yüksel gibt ihnen den nötigen Raum dazu, lässt sie sich erinnern. An ihre Träume, ihre Erwartungen und Hoffnungen. Und legt so Zeugnis ab vom unerschütterlichen Optimismus und dem Durchhaltevermögen jener Menschen, die ganz allein in einem fremden Land ihr Glück suchten und fanden.

Archivfoto aus dem Film "Gleis 11": Osman Yazici und ein Mitarbeiter an Yazicis Auto
Osman Yazici in den Siebzigern als erfolgreicher RestaurantbetreiberBild: Cocktailfilms

Im DW-Interview betont Çağdaş Yüksel, wie "bemerkenswert" er es fand, "dass trotz dieser Ausgangssituation ein Mensch so viel Optimismus mitbringen und in sich tragen kann." Ob mit Absicht oder nicht - Deutschland erscheint in Yüksels Film in einem einzigen Dauerregen. Auf diese Art wird der Kontrast zur Heimat der ausgewanderten Menschen noch deutlicher und steht für das immense Heimweh, von dem einige von ihnen berichten. 

Großes Interesse am "Nischenthema"

Am 24. Januar fand die Premiere von "Gleis 11" in der Essener Lichtburg statt, dem größten Kino Deutschlands. Nur Yüksels Teammitglieder waren anwesend - und vier seiner Protagonisten. Bei der Online-Übertragung der Premiere des Films, der einmal als "Nischenthema" abgelehnt worden war, sahen so viele Leute zu, dass der Server von Yüksels Webseite zusammenbrach. 1300 Leute - das wäre in nicht pandemischen Zeiten ein mehr als ausverkaufter Saal gewesen. Für Çağdaş Yüksel eine gewisse Genugtuung, "dass die Sender in diesem Punkt zumindest Unrecht hatten." 

Çağdaş Yüksel, Regisseur des Films "Gleis 11", steht vor dem Eingang des Kinos Lichtburg in Essen
Çağdaş Yüksel vor der Essener Lichtburg, in der am 24. Januar sein Film "Gleis 11" Weltpremiere feierteBild: Cocktailfilms

Auch aus der Türkei ist das Interesse an "Gleis 11" groß. Zahlreiche Menschen hatten sich von dort aus Tickets für die virtuelle Premiere gekauft, inzwischen haben einige türkische Schulen und Universitäten Interesse an Screenings angemeldet, türkische Verleihe interessieren sich für den Film. 

Auch Yüksels Oma ist bei der Premiere dabei - Nezihat, deren Geschichte der Ursprung dieses Projekts gewesen war. Ruhig und liebevoll sieht sie ihrem Enkel dabei zu, wie er diesen Abend allein mit seinem Filmteam bestreitet und moderiert und beantwortet ihm ein weiteres Mal zahlreiche Fragen - diesmal aus dem Publikum der virtuellen Premiere, abgelesen von seinem Smartphone. Sie sagt, sie habe es nie bereut, nach Deutschland gekommen zu sein.