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Politik

Griechenland: Europas Antisemitismus-Champion?

22. Oktober 2020

Immer wieder werden in Griechenland jüdische Friedhöfe und Holocaust-Denkmäler geschändet. Opfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt werden heute aber vor allem Flüchtende, Antifaschisten und LGBT-Aktivisten.

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Griechenland Thessaloniki | Schändung des jüdischen Friedhofs
Der jüdische Friedhof von Thessaloniki wurde im Januar 2019 geschändetBild: Sakis Mitrolidis/Getty Images/AFP

Es gibt nur eine einzige Umfrage zu Antisemitismus in Griechenland, und die ist knapp sechs Jahre alt. Sie wurde im Auftrag der US-Menschenrechtsorganisation Anti Defamation League (ADL) durchgeführt und ihr Ergebnis erschreckte die griechische Gesellschaft zutiefst: 69 Prozent der Einwohner des EU-Landes haben antisemitische Vorurteile.

Damit wären die Griechen die absoluten Antisemitismus-Champions in Europa, denn im Jahre 2014 hatten im Durchschnitt "nur" 26 Prozent der Europäer Vorurteile gegen Juden. Zwar wird die Zuverlässigkeit der ADL-Umfrage bezweifelt - aber da seitdem keine weitere Befragung in Auftrag gegeben wurde, weiß man bis heute nicht, ob die erschreckende Zahl wirklich stimmt.

Fest steht: In Griechenland gibt es keine bekannten Fälle von Gewalt gegen Juden. Die rund 5000 Mitglieder der seit dem Massenmord im Zweiten Weltkrieg während der Besetzung durch Nazi-Deutschland (1941-44) nur noch sehr kleinen jüdischen Gemeinden des Landes haben keine Angst vor Übergriffen. In der nordwest-griechischen Stadt Ioannina wurde 2019 mit Moses Elisaf sogar der erste jüdische Bürgermeister Griechenlands gewählt. Auch erinnert man sich in Griechenland gerne an die Geschichte des Erzbischofs von Athen, Damaskinos Papandreou (1891-1949), der während der deutschen Besatzung das Leben Tausender der insgesamt 100.000 griechischen Juden rettete.

Griechenland Thessaloniki | Holocaust-Denkmal
Ein Mann betet vor dem Holcaust-Denkmal in Thessaloniki, der bis zum Völkermord größten jüdischen Stadt EuropasBild: Grigoris Siamidis/Imago Images/ZUMA Press

Doch genauso gern vergisst man das Nichtstun der Griechen während der Verschleppung der Juden Thessalonikis: 95 Prozent der rund 53.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürger der "zweites Jerusalem" genannten größten jüdischen Stadt Europas wurden im Holocaust ermordet; ihre Nachlässe wurden von einheimischen Helfern der Nazis gestohlen.

Nazi-Graffiti immer häufiger

Zudem wird Vandalismus gegen jüdische Friedhöfe und Holocaust-Denkmäler - meist mit antisemitischen oder nationalsozialistischen Graffiti - immer häufiger. Zuletzt wurden die jüdischen Friedhöfe in Athen und auf der Insel Rhodos sowie das Holocaust-Denkmal in Thessaloniki geschändet. Und das genau eine Woche nachdem die griechische Justiz eine historische, wegweisende Entscheidung getroffen hatte: Die Führungsriege der Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte" wurde zu langen Gefängnisstrafen verurteilt - und das nicht nur wegen Verbrechen von Mord und Körperverletzung bis hin zu illegalem Waffenbesitz, sondern auch wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Griechenland Goldene Morgenröte Athen
Das Emblem der griechischen Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte"Bild: picture-alliance/NurPhoto/P.Tzamaros

Seitdem darf niemand in Griechenland mehr "Ich habe es nicht gewusst" sagen, besonders nicht die 9,93 Prozent oder 536.910 Stimmberechtigten, die der Goldenen Morgenröte bei den Europawahlen 2014 ihre Stimme gegeben hatten. Neonazis sind kriminell, jetzt auch mit dem Siegel der griechischen Justiz. Gleichzeitig sind sie die Hauptträger des Antisemitismus; man kann die aktuellen Schändungen also durchaus als "Solidaritätsakt" ihrer Anhänger betrachten.

21 Prozent für "gemäßigte" Neonazis

Potenzielle Anhänger haben die Neonazis in Griechenland noch immer mehr als genug. Eine Umfrage des Instituts "Prorata" für die Zeitung "Efimerida ton Syntakton" vom 16. Oktober ergab, dass 21 Prozent der Befragten finden, eine "gemäßigte" Goldene Morgenröte wäre von Vorteil für das Land. Diese Zahl ist noch erschreckender, weil sie unmittelbar nach der Verurteilung der Neonazi-Partei erschien.

Athen Protest gegen Flüchtlings - Hotspots Chrysi Avgi Ilias Kasidiaris
Anhänger der griechischen Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte" demonstrieren gegen Flüchtende Bild: DW/P. Zafiropoulos

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki und des Zentralrats der jüdischen Gemeinden in Griechenland, David Saltiel, ist überzeugt, dass das Urteil gegen die Goldene Morgenröte die antisemitische Ideologie in Griechenland nicht reduzieren wird. Antisemitismus habe es lange vor der Gründung der Neonazi-Partei gegeben, und es werde ihn auch weiter geben. Beruhigend findet Saltiel lediglich, dass der griechische Antisemitismus zumindest bisher keine Todesopfer gefordert hat wie in anderen Ländern.

Faschismus von nebenan

Opfer militanter Rechtsextremisten sind im Griechenland des 21 Jahrhunderts Migranten, Antifaschisten und LGBT-Aktivisten. Jahrelang haben Anhänger der Goldenen Morgenröte Jagd auf Flüchtende gemacht - und dafür Applaus von "besorgten Bürgern" und "Verständnis" von vielen Medien und einer Staatsgewalt erhalten, die auf dem rechten Auge blind war. Viele Politiker der regierenden konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) haben ihre Karrieren mit Sprüchen gegen Flüchtende gemacht; antisemitische Parolen sind zumindest im Moment jedoch nicht salonfähig.

Pavlos Fyssas Blumen vor der Kneipe 19.09.2013
Eine Frau trauert an der Stelle, an der ein Anhänger der "Goldenen Morgenröte" im September 2013 Pavlos Fyssas erstachBild: Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images

Im September 2013 hatte ein Anhänger der Goldenen Morgenröte den antifaschistischen Hip Hop-Musiker Pavlos Fyssas erstochen. Der Täter wurde vor wenigen Tagen zu lebenslanger Haft verurteilt.

LGBT-Aktivist wurde gelyncht

Am Mittwoch hat zudem ein weiteres bedeutendes Gerichtsverfahren in Athen begonnen: Der Prozess wegen Mordes an Zak Zakie Costopoulos. Der LGBT-Aktivist wurde vor zwei Jahren am hellichten Tag mitten in Athen zu Tode geprügelt. Angeklagt sind ein Juwelier, ein Makler und vier Polizisten. Deren Rechtsbeisteher ist der ND-Parlamentsabgeordnete Athanasios Plevris, der Sohn eines Theoretikers des Nationalsozialismus in Griechenland.

2018 hatte die Polizei noch über eine angebliche "tödliche Selbstverletzung eines Räubers" berichtet. Die meisten Medien hatten diese Version kritiklos übernommen - bis die Videoaufnahme einer Passantin erschien, die belegten, das Costopoulos Opfer eines Lynchmords wurde.

Foto-Porträt einer Frau mit braunen Haaren, blauen Blazer und grauem T-Shirt
Kaki Bali Autorin DW Griechisch