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Das Filmfestival in Locarno

13. August 2011

Experimentell, multikulti und wandelbar: So will das Film-Festival in Locarno sein. Die 64. Ausgabe ist geglückt und hat tausende Zuschauer in die Schweizer Idylle gezogen. Ein Rückblick auf einige Highlights.

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"Abrir puertas y ventanas" ("Back to stay")
The winner is: "Abrir puertas y ventanas" ("Back to stay")

Am Ende überraschte die Jury dann doch noch. Unter Vorsitz des portugiesischen Produzenten Paulo Branco vergab sie den Goldenen Leopard für den besten Film am Samstag (13.08.2011) an die argentinisch-schweizerische Koproduktion "Abrir puertas y ventanas" ("Back to stay"). Der Film war nicht unbedingt als Favorit bei den 64. Internationalen Filmfestivals von Locarno gehandelt worden. Doch die Geschichte dreier Schwestern, die die aus der Schweiz stammende argentinische Regisseurin Milagros Mumenthaler in sensiblem Ton erzählt, überzeugte die Jury.

Apokalypsen und Nationalsozialismus aus Deutschland

Die Macher der 64. Filmfestspiele in Locarno wollten in diesem Jahr vor allem eins bieten: Vielfalt. Vom klassischen Erzählkino über anspruchsvolle Autorenfilme war alles mit dabei, auch filmische Highlights aus dem deutschsprachigen Raum. Unter anderem glänzte Regisseur Tim Fehlbaum mit einem Science-Fiction Debüt. Die deutsch-schweizerische Produktion "Hell" zeigt eine in gleißendes Licht getauchte Apokalypse im Jahr 2016 - der Klimawandel ist brutale Realität geworden, die Helden des Dramas stehen im Überlebenskampf auf der Suche nach Wasser.

Still aus "4 Tage im Mai", ein Film von Achim von Borries (Foto: Festival del film Locarno 2011 / X Filme Creative Pool)
Wurde begeistert aufgenommen: "4 Tage im Mai" von Achim BorriesBild: Festival del film Locarno 2011 / X Filme Creative

Beeindruckend auch Achim von Borries "4 Tage im Mai". Darin rückt 1945, vier Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland, ein sowjetischer Hauptmann mit seinem Spähtrupp in eine Waisenhaus an der Ostsee ein, während eine deutsche Wehrmachtseinheit am Strand lagert. Ein detailgetreu und sensibel erzähltes historisches Ereignis mit absurden Verwicklungen und durchaus zeitgemäßen Einsichten über Heldentum. Die Zuschauer auf der rund 8000 Plätze zählenden Piazza Grande zeigten sich begeistert von dieser deutsch-russisch-ukrainischen Produktion, die hier erstmals öffentlich aufgeführt wurde.

Migrantenschicksale als Filmstoff

Das Festival in Locarno gilt zwar als das kleinste der wichtigen europäischen Filmfestivals, aber es hat immerhin die größte Freilichtleinwand Europas zu bieten. Und auf der lief auch ein neues Werk des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki. In "Le Havre" greift er das Schicksal eines Flüchtlingsjungen aus Afrika auf, der sich im Hafen von Le Havre versteckt und versucht, zu seiner Mutter nach London zu kommen. Solidarität und Mitmenschlichkeit erfährt er dabei einzig durch einen Schuhputzer und die Bewohner seines ärmlichen Viertels. Ein filmischer Appell gegen menschliche Gleichgültigkeit, warmherzig, traurig und humorvoll zugleich.

Still aus dem Film Le Havre von Aki Kaurismäki (Foto: Sputnik Oy)
Aki Kaurismäkis "Le Havre"Bild: Sputnik Oy

Auch andere Regisseure nehmen die Migranten-Wirklichkeiten des 21. Jahrhunderts als Stoff für ihre Filme auf. Der Niederländer Marco von Geffen thematisiert das Schicksal von Ewa aus Polen, die in den Niederlanden einen Neubeginn wagen will und doch eine Fremde bleibt. Der Schweizer Fernand Melgar leuchtet in "Vol Spécial" die Beziehungen von Freundschaft und Hass zwischen Wärtern und Asylsuchenden aus, die in einem Genfer Ausweisungszentrum darauf warten, in ein Flugzeug verfrachtet zu werden.

Dokumentationen über Gewalt und Spurensuche

Die Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs stehen dagegen im Mittelpunkt des Dokumentarfilms von Heidi Specoga, der ebenfalls in Locarno präsentiert wurde. "Carte blanche", eine Koproduktion des Schweizer Fernsehens und des Westdeutschen Rundfunks, macht die mühsame Kleinarbeit bei der Beweisfindung von Gewaltverbrechen deutlich, die 2002 in der zentralafrikanischen Republik, mutmaßlich auf den Befehl Jean-Pierre Bembas, durch Rebellen aus dem Nachbarland Kongo verübt wurden.

Auf der Piazza Grande (Foto: EPA/JEAN-CHRISTOPHE BOTT)
Auf der Piazza GrandeBild: picture-alliance/dpa

Fritz Ofner wiederum dokumentiert in einer beeindruckenden österreichischen Produktion, wie der globale Hunger nach billigen Ressourcen einen jahrzehntelangen Gewaltkreislauf in Guatemala initiiert hat, der bis heute existiert. Durch einen Krieg um den Handel mit Bananen und die Interessen der "American Fruit Company" hat sich die Gewalt im Land nach und nach verselbstständigt. Auch wenn der Bürgerkrieg nach 36 Jahren inzwischen beendet ist, wird im Film "Evolution der Gewalt" deutlich.

Auditorium FEVI (Foto: Festival del film Locarno)
In LocarnoBild: Festival del film Locarno 2011

Unabhängige indische Filmemacher jenseits von Bollywood erhielten in diesem Jahr eine Plattform für ihre Arbeiten im Rahmen der Filmreihe "Open Doors". Gezeigt wurde hier indisches Autorenkino, das neben der millionenschweren Bollywoodindustrie und ihrem beliebten Musical-Kitsch, national und international bislang eher ein Schattendasein führt. Auch wenn sich Indien mit über tausend neuen Filmen pro Jahr längst auf Augenhöhe mit Hollywood befinde, müsse man gerade den indischen Independent-Film in seiner großen Vielfalt unterstützen, so Martin Dahinden vom Schweizer Department für Auswärtige Angelegenheiten. "Wie lassen sich Wachstum und Entwicklung oder Globalisierung und kulturelle Vielfalt in Einklang bringen", fragte er sich angesichts der zwei Seiten des indischen Kinos. Eine Frage, die man auf das gesamte Festival ausweiten kann. In Locarno konnte man darauf durchaus viele Antworten finden.

Autorin: Ulrike Mast-Kirschning

Redaktion: Dirk Eckert/Marko Langer