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Vereinigtes Königreich: Brexit? Welcher Brexit?

Birgit Maaß
30. Januar 2024

Vor vier Jahren trat Großbritannien aus der EU aus. In den kommenden zwölf Monaten werden die nächsten Wahlen stattfinden, über den Brexit spricht aber niemand mehr. Was hat der Ausstieg den Briten nun gebracht?

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Ein Londoner Taxifahrer schwenkt aus seinem Auto heraus die britische Flagge, an der Hauswand im Hintergrund hängt eine EU-Flagge
Das Vereinigte Königreich und die EU gehen seit vier Jahren getrennte WegeBild: Stefan Rousseau/empics/picture alliance

Der Brexit war das dominierende Thema nach dem EU-Referendum 2016. Aber seit der offiziellen Trennung Großbritanniens von der Europäischen Union Ende Januar 2020 scheint den Briten ein kollektiver Stein vom Herzen gefallen zu sein: Endlich kein Streit mehr mit Nachbarn und Freunden, kein Zank mehr mit Oma und Opa bei Familienfeiern.

Wenn die Wahlinstitute nachfragen, welche Themen die Bürger am meisten bewegen, schaffen es EU-Angelegenheiten und Brexit nicht einmal mehr unter die Top Ten. Bei der jüngsten Umfrage des Instituts Ipsos stehen Wirtschaft und die Inflation an der Spitze, gerade einmal fünf Prozent der Befragten halten Europa für ein wichtiges Thema.

EU-Nostalgie? Nicht spürbar!

Die "Brexiteers" haben gewonnen, und das ficht niemanden mehr an. Es gibt keine wesentliche politische Kraft im Land, die es sich zum Ziel gesetzt hätte, den Brexit rückgängig zu machen. Obwohl das Bruttosozialprodukt durch den EU-Austritt langfristig um vier Prozent geschwächt wird. Und obwohl die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung den Abschied von der europäischen Familie mittlerweile bereut.

Bei einem "Rejoin"-Marsch im Hyde Park fordern Demonstranten den Wiedereintritt des Vereinigten Königreichs in die EU - und halten dabei Tafeln hoch, auf denen die Verantwortlichen für den Brexit angeprangert werden
Es gibt sie noch, die EU-Freunde. Aber politischen Einfluss haben sie nicht. Bild: Jeff Moore/PA Wire/dpa/picture alliance

Was also kann Großbritannien mit der neuen Eigenständigkeit angefangen? Nicht viel, stellen die Experten von "UK in a Changing Europe" vom King´s College London fest. Mit einem "divergence tracker" beobachten sie, in welchen Wirtschaftsbereichen UK und EU voneinander abweichen. "Boris Johnson hat sehr viel davon gesprochen, die 'neuen Freiheiten' zu nutzen. Aber bisher wurde nur wenig davon umgesetzt", erklärt Wissenschaftlerin Jannike Wachowiak.

Nur wenige wirtschaftliche Vorteile

Die bisherigen Deregulierungen sind demnach eher symbolischer Natur. Wie etwa die Möglichkeit, Wein nun auch in Pint-Flaschen anzubieten. Der zuständige Minister bemüht sich zwar, das neue Gesetz als Fortschritt zu verkaufen - schließlich habe auch Winston Churchill seinen geliebten Champagner so zu sich genommen. Aber der ökonomische Nutzen bleibt eher undurchsichtig.

Bisher lassen sich wenige wirtschaftliche Vorteile erkennen. Es gibt neue Barrieren beim Handel mit dem wichtigsten Partner. Die Verunsicherung über den Umbruch hat die Investitionen von Unternehmen gedämpft. Und zum Verdruss vieler Brexit-Wähler ist die Zahl der Einwanderer inzwischen höher als vor dem EU-Austritt: Über 700.000 in einem Jahr. Eine Rekordzahl.

Pflegekräfte kommen nun aus Afrika oder Asien

Dabei ist vor allem der Gesundheitssektor auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Fast 100.000 Visa an Ärzte, Pfleger und andere Gesundheitsspezialisten musste die britische Regierung in einem Jahr erteilen. Das sind so viele wie nie zu vor, stellt das Migration Observatory Institut der Universität Oxford fest. Der überwiegende Teil der angeworbenen Fachkräfte komme nicht aus der EU.

Die Londonerin Deirdre Yager gehörte vor vier Jahren zu denjenigen, die in der Austrittsnacht die Korken knallen ließen. "Aufregend", gar "berauschend" empfand sie den Moment. "Endlich Freiheit!" An der EU störte sie vor allem die Bürokratie, die ihrer Meinung nach zu verschwenderisch war, zu undemokratisch und von den Lebenswirklichkeiten im eigenen Land zu weit entfernt. Allein schon der regelmäßige Umzug des Parlaments nach Straßburg, das sei lächerlich.

Die Britin Deirdre Yager sitzt vor einem Fenster
Deirdre Yager bereut den Brexit nichtBild: Connie Yager

Klare Vorteile seit dem Brexit kann sie zwar nicht erkennen. Aber Nachteile spüre sie auch nicht. Wegen einer starken Behinderung lebt ihr Sohn in einem Pflegeheim, und auch ihr Mann Barry, der an Parkinson leidet, benötigt regelmäßig Hilfe. Es gebe keine Probleme bei der Versorgung mit medizinischem oder mit Pflegepersonal, sagt Deirdre Yager. Statt wie früher aus der EU kämen die Pfleger jetzt eher aus Afrika oder Asien. Ein junger Mann aus Sri Lanka kümmere sich viel um Barry. Sie bereue den Brexit überhaupt nicht.

Punktgenaue Einwanderung?

Für den Ökonomen Julian Jessop ist das neue System eine Verbesserung. Statt wie früher ungebremste Zuwanderung aus der EU zuzulassen, könne man jetzt gut ausgebildete Fachkräfte ins Land holen, für genau die Sektoren, in denen sie fehlten.

Jessop ist einer der wenigen britischen Ökonomen, die den Brexit befürworten. Seiner Meinung nach hätten sich viele Firmen in der Vergangenheit zu sehr auf billige Arbeitskräfte aus der EU verlassen, statt in neue Technologien zu investieren. Das sei auch der Grund für die ungenügende Produktivität Großbritanniens. Der Brexit habe mehr Spielraum zum Handeln ermöglicht - die jetzige Regierung sei nur zu vorsichtig, das auch auszunutzen.

Sich zu sehr an der EU zu orientieren, deren Regeln einfach zu übernehmen, das mache keinen Sinn, dann würden die Chancen nicht genützt. Ziel seien neue Handelsabkommen, mit den USA zum Beispiel, auch wenn diese Verhandlungen ins Stocken geraten sind. Auch in der Finanzwirtschaft und bei der künstlichen Intelligenz sieht Jessop gute Möglichkeiten, sich von der stark an Regeln orientierten EU abzusetzen, sich eher an den USA zu orientieren.

Die Grenzen der Eigenständigkeit

Dass Großbritannien bei der künstlichen Intelligenz in Zukunft punkten könnte, hält auch Jannike Wachowiak nicht für ausgeschlossen. Allerdings habe man das Problem, bei vielen wichtigen Gesprächen nicht mehr im Raum zu sein. So wie beim Trade and Technology Council, bei dem sich EU und USA regelmäßig auf ministerialer Ebene über globale Entwicklungen verständigen.

EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen und der britische Premier Rishi Sunak sitzen vor den Flaggen von EU und UK auf dem Artificial Intelligence (AI) Safety Summit im englischen Bletchley
KI-Gipfel im November 2023 in Bletchley Park: Wer profitiert mehr von umwälzenden Technologien?Bild: Joe Giddens/AP/picture alliance

Außerdem gebe es den sogenannten Brüssel-Effekt: Als große Wirtschaftsmacht könne die EU Fakten schaffen und Standards setzen, an denen sich auch andere Länder orientierten. Großbritannien habe diese Möglichkeit nicht. Die EU sei ein dynamisches System, entwickele sich immer weiter - das Vereinigte Königreich werde sich entscheiden müssen, ob es mitziehen wolle oder nicht.

All diese Fragen werden jedoch eher in Fachkreisen diskutiert und nicht mehr in Pubs oder auf Geburtstagsfeiern. Man wolle nicht mehr über den Brexit streiten, betont Deirdre Yager: Unhöflichkeit und schlechte Manieren seien in ihrer Heimat verpönt.