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Russische Tänzer trotzen Corona

Juri Rescheto
28. Mai 2020

Die Quarantäne trifft auch Tänzerinnen und Tänzer der führenden russischen Bühnen. Doch es wird weiter getanzt. DW-Russland-Korrespondent Juri Rescheto berichtet.

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Startänzer Winogradowa und Wasiljew im DW-Interview
Startänzer Winogradowa und Wasiljew im DW-InterviewBild: DW

Stille im Bolschoi-Theater

Wie funktioniert klassisches Ballett auf einer Fläche von gerade mal sechs Quadratmetern? Die Antwort darauf findet man in der Dachkammer eines Landhauses bei Moskau. Hier trainieren jeden Morgen zwei Weltstars des internationalen klassischen Balletts: Iwan Wassiljew, der erste Solo-Tänzer des Sankt Petersburger Michajlowskij-Theaters, und Maria Winogradowa, die führende Solistin des Moskauer Bolschoi. Einen Meter Ballettstange teilen sich die beiden hier - statt eines großen Spiegelsaals wie früher, vor der Corona-Pandemie. Geschummelt wird trotzdem nicht: Dehnen, strecken, Körper gerade halten, Ausdauer und Ausdruck, alles wie gehabt - zwei Stunden lang.

Zwei Bolschoi-Tänzer üben
"Irgendwie in Form bleiben": Tänzer in QuarantäneBild: DW

Ballett in Quarantäne

Wegen der Corona-Pandemie sind sämtliche russische Theater und Konzerthäuser seit Mitte März landesweit geschlossen. Auch die bedeutendsten Tanz-Kompanien haben Zwangsurlaub, etwa die des Mariinski-, Bolschoi- und Michajlowskij-Theaters in Sankt Petersburg und Moskau.

So lange haben auch Wassiljew und Winogradowa die Bühne nicht mehr betreten. Aufgeben wollen die Tanz- und Lebenspartner trotzdem nicht: "Man kann uns Künstlern das Theater wegnehmen, aber nicht unsere Kreativität”, lächelt Iwan Wassiljew und bittet Maria Winogradowa, etwas fröhlichere Musik auf dem Laptop zu suchen. Das Training geht weiter. Am Ende schwitzen sie.

"Wir üben jeden Tag, um irgendwie in Form zu bleiben – aber wir verlieren die Form natürlich trotzdem: ohne Bühne, ohne richtige Proberäume und ohne die physischen Belastungen, die wir sonst gewohnt waren, als wir mehr als sechs Stunden täglich trainierten", klagt Bolschoi-Tänzerin Winogradowa im Gespräch mit der DW.

Kulturleben unbefristet auf Eis

Und sie ist nicht allein damit. Seit über zwei Monaten steht das komplette kulturelle Leben Russlands still. Der leere Zuschauerraum des Bolschoi-Theaters ist eines der Symbole dieses Stillstands. Dessen Direktor Wladimir Urin zeigt sich im DW-Interview wenig optimistisch: An einer durchschnittlichen Bolschoi-Aufführung sind über zweihundert Personen beteiligt, im Orchestergraben wie hinter und auf der Bühne. Orchester, Chor, Solisten, Komparsen, Maskenbildner, technisches Personal: "Sie können unter solchen Bedingungen natürlich keine Distanz wahren. Sie können höchstens die Körpertemperatur der Mitarbeiter messen. Eine Maske bei einem Sänger wäre aber undenkbar. Genauso wie bei einem Blasmusiker." Natürlich geht es auch beim klassischen Ballett nicht ohne Körperkontakt. Urins nüchterne Schlussfolgerung: Musik- und Tanztheater können erst wieder öffnen, "wenn all diese Vorsichtsmaßnahmen aufgehoben werden."

Wann das passiert, weiß derzeit allerdings niemand. Neben den USA und Brasilien gehört Russland zu den Ländern mit den meisten Corona-Infizierten weltweit – und ihre Zahl steigt dramatisch weiter. Wegen der unterschiedlichen Zählmethoden gibt es Streit darüber, wie viele Russen tatsächlich an dem Virus sterben. Kritiker werfen den Behörden vor, die wahre Zahl der Toten zu verschleiern. Russische Ärzte gehen an die Grenzen ihrer Belastung, viele von ihnen sind selbst infiziert. Das Coronavirus hat das öffentliche wie private Leben in Russland bislang fest im Griff.

Bolschoi bleibt eine Ausnahme

In russischen Betrieben ist eine große Entlassungswelle zu befürchten. Auch die Künstler des Landes fürchten um ihre Existenz. Gerüchte über die Auflösung von zahlreichen Orchestern und Theaterhäusern in staatlicher und kommunaler Trägerschaft machen sich breit.

Bolschoi-Tänzer Wasiljew übt in seiner Wohnsiedlung
Viel Platz zum Tanzen: Tänzer Wasiljew in seiner WohnsiedlungBild: DW

Allerdings werden diese Maßnahmen wohl nicht das Bolschoi betreffen, "Russlands Theater Nummer Eins" mit seiner symbolischen Bedeutung. Das in unmittelbarer Kreml-Nähe gelegene Prachthaus braucht keine Kürzungen zu befürchten, ist sich Urin sicher: "Etwas mehr als 60 Prozent unseres Budgets kommen über die Zuschüsse des Staats. Der Rest sind unsere Einnahmen und Sponsorengelder. Alle Sponsorengelder und staatliche Subventionen bleiben uns bisher erhalten, obwohl wir gerade nicht arbeiten. Außerdem hat die Regierung vor kurzem zusätzliche Mittel zur Unterstützung des Bolschoi beschlossen.”

Was auch immer die Corona-Krise noch bringen wird – für die beiden Balletttänzer Iwan Wassiljew und Maria Winogradowa steht fest: Sie wollen tanzen, egal wann ihre Häuser wieder öffnen. "Ich habe auch zu Hause mein Ballett-Trikot an, ich bin schon jetzt bereit für die Bühne!” sagt Wassiljew und macht zwanzig große Spagat-Sprünge um das Blumenbeet auf dem Dorfplatz. Auf der richtigen Bühne hätte er Platz für gerade mal neun Sprünge. Immerhin.

 

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga