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"Grundlage unserer europäischen Geschichte"

Das Interview führte Mathis Winkler28. August 2006

Was kann die EU von dem vor 200 Jahren untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lernen? Eine Menge, meint die österreichische Historikerin Mazohl-Wallnig.

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Der letzte Kaiser: Kaiser Franz II., 1792Bild: DHM/Regensburg, Fürst Thurn & Taxis Kunstsammlung

Als Franz II. im August 1806 abdankte, endete eine politisches System, dass fast 1000 Jahre existiert hatte: das Heilige Römische Reich deutscher Nation.

Zum 200. Jahrestag des Untergangs bringt eine Fülle von Veranstaltungen das Reich wieder mehr in das Bewusstsein. Am 28.8. eröffnet die große Doppelveranstaltung in Berlin und Magdeburg.

Über die Bedeutung des Reiches für die deutsche und europäische Geschichte und Gegenwart unterhielt sich DW-WORLD.DE mit Prof. Brigitte Mazohl-Wallnig, Leiterin des Instituts für Geschichte an der Universität Innsbruck und Autorin des Buches "Zeitenwende 1806: Das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa."

DW-WORLD.DE: Warum sollte man sich heute noch für das Heilige Römische Reich interessieren?

Brigitte Mazohl-Wallnig: Weil ich denke, dass das Heilige Römische Reich die wesentliche Grundlage unserer gemeinsamen europäischen Geschichte ist. Es sollte also im kollektiven Gedächtnis aller Europäer viel stärker verankert sein als das im Augenblick der Fall ist. Weil es auch dazu beitragen kann, die Brille des "Nationalstaats“, mit der wir gewohnt sind, auf die Geschichte zu blicken, abzulegen.

Inwieweit kann man wirklich von einem Reich sprechen?

Es war ein Reich, das sich auch sehr klar als solches verstanden hat und als Reich wahrgenommen wurde. Es gab gemeinsame Grundgesetze, die tatsächlich so etwas wie eine gemeinsame Grundverfassung dargestellt haben. Dann gab es den Reichstag, es gab die beiden Reichsgerichte, es gab die Reichskreise. Und es gab den Kaiser als Garanten dieser Ordnung als übergeordnete Instanz, die aber, nota bene, nicht absolutistisch zu definieren ist, denn dieses System war ein dualistisches Herrschaftssystem. Der Kaiser konnte ohne Reichstag nichts entscheiden.

Warum ist das Reich letztendlich zerfallen?

Im Laufe des 18. Jahrhundert führt das machtpolitische Denken dazu, dass die einzelnen Stände, vor allem die größeren, immer mehr das absolutistische Modell für sich in Anspruch nehmen und Machtpolitik nach innen und außen betreiben. Den entscheidenden Todesstoß gibt es allerdings erst in den Napoleonischen Kriegen, als deutlich wird, dass sowohl Preußen als auch Österreich nicht mehr das gemeinsame Interesse des Reiches im Auge haben. Daraufhin setzen natürlich auch die süddeutschen Stände auf ihren eigenen Vorteil und arrangieren sich mit Napoleon. Sie werden dadurch zu autonomen Staaten, bekommen Souveränität.

Inwieweit hat das Fehlen des Nationalstaates in Deutschland die Geschichte beeinflusst?

Es geht hier nicht nur um Deutschland, sondern um Mitteleuropa in seiner Gesamtheit, einschließlich Italien, Österreich samt seinen osteuropäischen Ländern. Der Zusammenbruch des Reiches hat bewirkt, dass hier ein Vakuum in der Mitte Europas entstand. Daraus entwickeln sich zunächst vor allem der italienische und der deutsche Nationalismus und der italienische und deutsche Nationalstaat. Mit allen Konsequenzen, die das bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts nach sich gezogen hat. (Der österreichische Dramatiker Franz) Grillparzer hat damals schon vorhergesagt: "Von der Humanität zur Nationalität zur Bestialität".

Einige Ihrer Kollegen meinen, dass das Dritte Reich den Blick auf das Heilige Römische Reich verstellt hat. Stimmen Sie dem zu?

Sicherlich, allein der Reichsbegriff ist seither anstößig. Mit dem Blick auf längere Zusammenhänge denke ich aber, dass für die Verstellung des Blickes auf das Alte Reich die Propaganda des 19. Jahrhunderts noch viel wesentlicher war. Es gab eine Flut von Beschimpfungen. Alles, was das 19. Jahrhundert sich erträumt hätte, nämlich einen starken Nationalstaat, das war das Reich nicht. Und daher hat die Historiographie des 19. Jahrhunderts vor allem negativ über das alte Reich gesprochen.

Gibt es Aspekte des Reiches, die sich das moderne Gebilde Europäische Union aneignen könnte?

Ich würde das jetzt gerne überspitzt formulieren: Die heutige EU kann dort ansetzen, wo 1806 aufgehört wurde. Es sind nämlich heute wieder ganz ähnliche Fragen zu stellen, die damals auch gestellt wurden: Wie viel Kompetenzen hat das übergeordnete Band, die Gemeinschaft? Welche Kompetenzen bleiben bei den Einzelstaaten auf der unteren Ebene? Wie sind die Kleinen im Verhältnis zu den Großen repräsentiert? Wir sind unter den heutigen demokratischen Voraussetzungen nach wie vor vor ähnliche Fragen gestellt, für die man damals in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen Lösungen gefunden hat. Man kann daraus lernen, dass dieses Europa auf jeden Fall ein gemeinsames Grundgesetz braucht und eine gemeinsame Verfassung, die so weit ist, dass sie alle akzeptieren können. Die Grundgesetze des Reiches waren so weit gefasst, dass sie von allen mitgetragen wurden und doch so eng, dass sie ein ausreichendes, gemeinsames Band darstellten. Das Reich hatte auch eine ganz starke politische Symbolik. Es wusste sich sichtbar zu machen. Europa ist wenig sichtbar. Hier ist noch nicht wirklich eine europäische, gemeinsame Symbolik entwickelt worden.

Wie könnte die denn aussehen?

Das Reich ist daran gescheitert, dass es in den späteren neuzeitlichen Jahrhunderten keine gemeinsame Verteidigungspolitik und keine gemeinsame Außenpolitik mehr gemacht hat. Man muss sich sehr genau überlegen, ob ein politisches Gebilde, das sich als Gemeinschaft versteht, nicht eine überzeugende, gemeinsame Außenpolitik braucht, damit nicht die Sonderinteressen dominieren. Mit dieser Gemeinsamkeit müsste Europa sich nach innen und außen viel stärker wahrnehmbar sein. Wenn Europa sich an die Friedensordnung des Reiches erinnert, dann könnte es sich als neue europäische Friedensordnung verstehen und gerade damit - nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege - punkten - sozusagen: "Wir sind eine europäische Friedensordnung und setzen diese als Alternativmodell der weltweiten Militarisierung entgegen“. Das Reich verstand sich auch nie hegemonial, es wollte sich nie imperialistisch ausdehnen. Es wollte als Reich seine Bewohner nach innen und außen schützen und es war in seinen Grenzen nach außen relativ offen.