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Grüner Höhenflug in die Mitte

5. November 2010

Es gibt derzeit nur eine Partei, die von der Schwäche der schwarz-gelben Koalition profitiert: die Grünen. Sie haben abgehoben zu einem Höhenflug in die Mitte der Gesellschaft. Bettina Marx untersucht die Gründe.

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Symbolbild: Die Grünen rücken in die Mitte
Bild: DW/dpa

Der Höhenflug der Grünen scheint ungebremst zu sein. Von Woche zu Woche klettern sie in den Meinungsumfragen nach oben. Der ARD-Deutschlandtrend sieht sie derzeit bei 22 Prozent. Damit sind sie in der Gunst der Befragten die dritte Partei, nach der Union mit 32 Prozent und der SPD mit 27 Prozent. Immer mehr rücken sie damit an das Label Volkspartei heran. Die Grünen sind angekommen in der Mitte der Gesellschaft oder, anders herum ausgedrückt: Die Gesellschaft ist bei den Grünen angekommen.

Alte Themen - neue Mehrheiten

Die Themen und die Überzeugungen, mit denen sie einst von den Rändern in die Politik drängten, sind inzwischen längst mehrheitsfähig geworden. Umweltbewusstsein ist kein Randthema mehr. Die Atomkraft wird von weiten Teilen der Gesellschaft als problematisch angesehen oder gar rundweg abgelehnt. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt, Menschen- und Bürgerrechte sind Themen, die bis weit in das konservative Lager hinein Bedeutung haben.

Von anderen Themen dagegen, die früher für die Grünen konstitutiv waren, haben sie sich bei ihrem Marsch in die Mitte der Gesellschaft fast unbemerkt verabschiedet: soziale Gerechtigkeit zum Beispiel oder die Friedenspolitik. So hatten die Grünen als Koalitionspartner der Schröder-SPD entscheidenden Anteil am Abbau sozialer Rechte und an der Militarisierung der Außenpolitik. Doch das nimmt ihnen in der Mitte der Gesellschaft niemand wirklich übel, denn das wird dort als Realpolitik geschätzt.

Von der Protestpartei zur Volkspartei

Wie konnten die Grünen sich so schnell von der Protestpartei zur Fast-Volkspartei entwickeln? Seit einem Jahr profitieren sie vor allem von der Schwäche der schwarz-gelben Koalition auf der einen Seite und von dem mühsamen Prozess der Selbstfindung der SPD auf der anderen Seite.

Die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir und Claudia Roth sitzen in der Parteizentrale in Berlin zusammen mit den Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, Renate Künast und Jürgen Trittin, in der Vorstandssitzung (Foto: dpa)
Bild: dpa

Darüber hinaus droht die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke einen gesellschaftlichen Großkonflikt neu aufzureißen und den Grünen weitere Wähler zuzutreiben. Dabei hat sich der Protest so verändert wie die Wählerklientel der Grünen. Es sind nicht mehr kleine oder größere Gruppen vorwiegend junger Leute, die gegen die Laufzeitverlängerung und gegen Castor-Transporte demonstrieren. Die Ablehnung der Atomkraft ist inzwischen generationenübergreifend. Und ähnlich ist es auch bei den Bürgerprotesten gegen Regierungsentscheidungen, die vielerorts aufbrechen. In Stuttgart beispielweise demonstrieren Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und allen Generationen gegen den umstrittenen Neubau des Bahnhofs - die Grünen gehören selbstverständlich mit dazu. Sie verleihen vielen der Unzufriedenen, Empörten, Frustrierten eine Stimme.

Geschlossene Führungsriege

Ein weiterer wichtiger Grund für den Höhenflug der Grünen ist ihr Personaltableau. Selbstdarsteller, wie der frühere Außenminister Joschka Fischer sind abgetreten. Stattdessen bieten die Grünen eine breite Führungsmannschaft, die solide und mit langem Atem für die Partei arbeitet, die zumindest derzeit keine öffentlichen Auseinandersetzungen austrägt, sondern gemeinsam beharrlich an einem Strang zieht.

Die Grünen, so scheint es, machen derzeit nichts falsch. Oder doch? Eine Frage jedenfalls bleibt: Während die Grünen in die Mitte rücken, räumen sie den linken Rand. Wo aber werden diese Wähler eine neue Heimat finden?

Autorin: Bettina Marx
Redaktion: Kay-Alexander Scholz