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Alevitischer Unterricht

Claudia Hennen10. Dezember 2008

Sie sind die Vorreiter in Europa: In drei deutschen Bundesländern gibt es jetzt alevitischen Religionsunterricht für Schüler. Die Türkei erkennt die liberal-islamische Glaubensgemeinschaft bis heute nicht offiziell an.

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Islamischer Religionsunterricht an einer Schule
Ob Religionsunterricht in Islamkunde oder für Aleviten: Deutschlands Schulunterricht wird internationalBild: picture-alliance/ dpa

Rund zwei Millionen Türken leben in Deutschland. Schätzungsweise zwischen 400.000 und 700.000 von ihnen sind Aleviten, eine liberal-islamische Glaubensgemeinschaft, die ihren Ursprung im schiitischen Islam hat. In der Türkei ist sie bis heute offiziell nicht anerkannt, daher praktizieren die Aleviten ihren Glauben vielerorts im Verborgenen. Anders in Deutschland. Hier sind die Aleviten mittlerweile in verschiedenen Bundesländern als Religionsgemeinschaft akzeptiert. Damit haben sie das Recht auf einen konfessionellen Religionsunterricht. Berlin und Baden-Württemberg gibt es das Angebot bereits seit einigen Jahren, seit Beginn des Schuljahres wird er auch an Grundschulen in Nordrhein-Westfalen praktiziert.

So zum Beispiel in Wuppertal: Seit drei Wochen nimmt dort die achtjährige Melissa am alevitischen Religionsunterricht in ihrer Gemeinschaftsgrundschule teil. An diesem Nachmittag füllt Melissa mit anderen Schülern der ersten bis vierten Klasse ein Arbeitsblatt aus. Darauf sind die Symbole der Weltreligionen zu sehen. "Erst wusste ich gar nicht, dass wir Aleviten sind", erzählt Melissa. "Meine Lehrerin hat uns gefragt und meine Mutter hat zugestimmt. Das Lernen hier macht sehr viel Spaß."

Als Ungläubige verfolgt

Muslimische Schülerinnen. Quelle: ap
Kopftücher tragen alevitische Schülerinnen nichtBild: AP

Der Lehrplan ist nach den gleichen Grundsätzen aufgebaut wie der evangelische, katholische oder jüdische Religionsunterricht. So wird den Schülern unter anderem vermittelt, Angehörige anderer Glaubensbekenntnisse zu respektieren. Dazu sei es notwendig, dass man seine eigene Religion gut kenne, sagt Grundschullehrerin Nermin Kocaer. Anders als sunnitische oder schiitische Muslime beten Aleviten nicht fünfmal am Tag, fasten nicht im Ramadan und die Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch. Das islamische Rechtssystem, die Scharia, spielt für sie keine Rolle. Auch deshalb seien die Aleviten über Jahrhunderte als Ungläubige diskriminiert und verfolgt worden.

Viele Aleviten wüssten nur sehr wenig über ihre Traditionen, berichtet die 33-Jährige - und spricht dabei aus eigener Erfahrung. "Als ich in meiner Kindheit von anderen türkischen Kindern gefragt wurde, warum ich nicht faste und kein Kopftuch trage, wusste ich mir nie zu helfen. Meine Eltern hatte mir nur wenig erklärt", sagt sie.

Unterrichtet wird auf Deutsch. Genauso wie beim Schulfach Islamkunde, das bereits seit mehreren Jahren in Nordrhein-Westfalen angeboten wird. Doch im Gegensatz zum alevitischen Religionsunterricht sei die Islamkunde nicht bekenntnisorientiert, erklärt Ulla Ohlms vom nordrhein-westfälischen Schulministerium. Islamkunde informiere die Kinder lediglich über die Regeln und Geschichte ihrer Religion. "Das führen wir jetzt auch beim alevitischen Unterricht ein", so Ohlms.

Gemeinsames Bekenntnis

Alevitische Gemeinde. Quelle: ap
Aleviten essen gemeinsam während eines Cems - dem Gottesdienst der ReligionsgemeinschaftBild: AP

Nach dem Grundgesetz haben Religionsgemeinschaften in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterricht. Gutachten bestätigten den Aleviten in Nordrhein-Westfalen die Voraussetzungen für eine solche Religionsgemeinschaft - unter anderem bringen sie die erforderliche klare Mitgliederstruktur und ein gemeinsames Bekenntnis mit. Dies sei bei den islamischen Verbänden, die sich seit Jahrzehnten um einen islamisch-sunnitischen Religionsunterricht bemühen, nicht gegeben, erklärt Ohlms. Es gebe keine klare Mitgliedstruktur. "Moslem ist, wer von muslimischen Eltern geboren wird. Aber es gibt es ganz verschiedene Richtungen, Sunniten, Schiiten, und auch ethnische Färbungen - je nachdem, ob die Gläubigen aus der Türkei kommen oder arabischen Ländern."

Einen alevitischen Religionsunterricht gibt es bislang in keinem anderen europäischen Land. Seine Einführung fördere auf beiden Seiten die Toleranz, betont Turgay Temiz vom Landesvorstand der alevitischen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen. "Diesen Integrationsanspruch leben wir seit Jahrhunderten schon. In unserer Mythologie gibt es 72 Völker auf der Welt und ein Alevite muss diese Menschen gleich behandeln", sagt Temiz. Deshalb sei es auch kein Problem, dass der Unterricht in Deutsch stattfinde. So könnten schließlich auch andere Kinder teilnehmen, sagt Temiz.

Pionierarbeit in Grundschulen

Islamkunde an einer Grundschule. Quelle: ap
Der alevitische Unterricht soll vier Jahre lang getestet werdenBild: AP

In Nordrhein-Westfalen soll der alevitische Religionsunterricht zunächst vier Jahre lang erprobt werden. Ob er irgendwann auf die weiterführenden Schulen ausgedehnt wird, ist noch offen. Die Lehrerin Kocaer und ihre Kollegen leisten momentan Pionierarbeit. Demnächst werden sie mit den Kindern einen 'Cem' - den Gottesdienst der Aleviten - besuchen. Melissa und ihre Freundinnen freuen sich schon.

Doch noch fehlen der alevitischen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen qualifizierte Religionslehrer. Doch das trübt nicht die Freude darüber, dass sie ihre Religion endlich in einem eigenständigen Unterrichtsfach vermitteln kann.