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Hürdenlauf nach Olympia

Bianca Kopsch, Rio de Janeiro3. Januar 2016

Verkehrschaos vermeiden, das verdreckte Segelrevier reinigen und in der Wirtschaftskrise noch Geld einsparen - das sind die größten Hürden auf dem Weg nach Olympia in Rio. Eine Bilanz zu Beginn des olympischen Jahres.

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Brasilien, Olympische Spiele 2016 Symbolbild (dpa)
Erst Fußball-WM, dann Olympische Spiele im berühmten Maracanã-Stadion in Rio de JaneiroBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Die gute Nachricht zuerst: Olympia kann kommen - theoretisch. 85 Prozent der Sportstätten sind mittlerweile fertig und die restlichen 15 Prozent offenbar bis zu Beginn der Olympischen Spiele im kommenden August in Rio de Janeiro zu schaffen. Praktisch könnte der Olympiapark allerdings für die Zuschauer unerreichbar bleiben, wenn das aktuell in den Schlagzeilen diskutierte Schreckensszenario eintritt. Das größte Infrastrukturprojekt im Rahmen der Olympischen Spiele ist in Verzug: Die U-Bahnlinie droht nicht fertig zu werden. Dann stehen alle im Stau. Der Berufsverkehr legt die Strecke zwischen Rios Zentrum inklusive der Südzone und dem rund 30 Kilometer im Westen gelegenen Stadtteil Barra da Tijuca lahm.

In olympischen Dimensionen bedeutet das: von der Copacabana, Austragungsort der Beachvolleyball-Wettbewerbe, oder dem Hafen von Glória, von wo aus die Segler zu den Regatten in die Guanabara-Bucht aufbrechen, bis zum Olympischen Park gibt es kaum ein Durchkommen. Die neue U-Bahnstrecke sollte dieses Problem lösen und bis zu 300.000 Menschen pro Tag transportieren. Doch der Kommunikationsdirektor des Olympischen Organisationskomitees gibt sich gelassen: "Wir dachten immer, dass die U-Bahn als Letztes fertig wird - und genauso ist es. Es wird zwar sehr eng, aber sie wird fertig: Ende Mai, das ist jetzt der Plan", sagt Mario Andrada.

Linie 4 der Metro in Rio de Janeiro (Foto: "Linha 4 do Metrô do Rio de Janeiro".)
So soll sie aussehen: Die neue U-Bahn in RioBild: Linha 4 do Metrô do Rio de Janeiro

Olympiapark & Co.

Zumindest der neue Schnellbus BRT fährt mittlerweile vom Flughafen zum Olympiapark. Mit neun Arenen bildet er das Herzstück der Spiele, die sich auf drei weitere Olympiastandorte verteilen. Die Tennisarena mit 16 Hartplätzen und Platz für 10.000 Zuschauer wurde im Dezember als erste der Sportstätten dort offiziell eingeweiht. Nach den Spielen wird sie Heimstätte des brasilianischen Tennisverbands CBT sowie Austragungsort des ATP- und WTA-Turniers Rio Open sowie von Davis-Cup-Spielen. Nur das Velodrom für die Bahnradfahrer hinke im Zeitplan hinterher, erklärt Andrada - wegen der anspruchsvollen Bahnbeschichtung, deren Holz extra aus Europa importiert werde. Man habe aus der Fußball-WM gelernt und den Bau der Sportanlagen rechtzeitig vorangetrieben. Dafür kassierten die Rio2016-Organisatoren bereits großes Lob vom Internationalen Olympischen Komitee.

Die große Krise

Obwohl die Vorbereitungen weitgehend nach Plan laufen, zwingt der wirtschaftliche Einbruch in Brasilien die Organisatoren zum Sparen, um das kalkulierte Gesamtbudget von umgerechnet rund neun Milliarden Euro nicht zu sprengen. "Die Spiele inmitten einer der umfassendsten Krisen zu veranstalten, die das Land je erlebt hat, ist die größte Herausforderung", meint Mario Andrada. Denn hinzu kommt auch die Krise in der Politik: Präsidentin Dilma Rousseff muss sich einem Amtsenthebungsverfahren wegen angeblicher Tricksereien bei den Haushaltszahlen stellen und gegen Parlamentspräsident Eduardo Cunha laufen Ermittlungen zu einer Verwicklung in den Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras. Schmiergelder in Millionenhöhe sollen zwischen Bauunternehmern und Politikern geflossen sein. Im Rahmen dessen sollen nun auch die Verträge der Olympiabauten unter die Lupe genommen werden, an denen dieselben Baukonzerne beteiligt sind und deren Chefs teilweise schon in Untersuchungshaft sitzen. Einige haben auch die Wahlkampagne des Bürgermeisters mitfinanziert, was bei der Auftragsvergabe mit Sicherheit förderlich war.

Dass der brasilianische Real 2015 gut ein Drittel seines Wertes gegenüber dem Dollar - wie auch dem Euro - eingebüßt hat, verschärft die Lage: Viele der Olympia-Rechnungen müssen in der US-Währung beglichen werden. Das operative Budget für die Ausrichtung der Spiele ist auf 7,4 Milliarden Real begrenzt. Vor ein paar Monaten waren das noch über zwei Milliarden Euro (ca. 2,1 Mrd. U$), jetzt sind es nur noch 1,7 Milliarden Euro (ca. 1,8 Mrd. U$). Auf der Suche nach "kreativen" Sparmodellen sorgte vor allem der Vorschlag für Aufsehen, die Sportler sollten die Benutzung der Klimaanlagen auf ihren Zimmern selbst zahlen. Das ist jetzt vom Tisch. Dafür könnten Fernseher nur in Gemeinschaftsräumen aufgestellt und nicht wie geplant auf den Zimmern. Umgerechnet rund 450 Millionen Euro will das Organisationskomitee jedenfalls irgendwie "hinter den Kulissen" einsparen. Die rund zwei Drittel des Gesamtbudgets für den Bau der Sportstätten und die Infrastrukturmaßnahmen sollen nicht angetastet werden.

Segeln im Müll

Doch abgesehen von Finanzen und Verkehr ist die höchste Hürde auf dem Weg nach Olympia das Wasser: Die Guanabara-Bucht, das olympische Segelrevier, ist gewissermaßen die größte Kloake der Stadt. Die sechseinhalb-Millionenmetropole leitet hier noch immer einen großen Teil ihrer Abwässer ungeklärt ins Meer. Tonnenweise Müll schwimmt umher. Das sorgt international weiterhin für Aufruhr: Infektionsrisiko für die Wassersportler! Gefahr und Behinderung durch Treibgut! Laut bisheriger Wassertests, zuletzt im Dezember, sollen auch die Regatta-Kurse weiter draußen stark mit Krankheitserregern verseucht sein - darunter antibiotikaresistente Superbakterien. Forderungen nach einer Verlegung der Wettkämpfe außerhalb Rios lehnt die Stadt jedoch entschieden ab. Obwohl sie zugibt, ihr Olympiaversprechen nicht halten zu können: die Bucht dauerhaft zu reinigen. Jahrelang war dafür Zeit, passiert ist wenig.

Brasiliens erfolgreichster olympischer Segler Robert Scheidt hat für die Wettbewerbe im kommenden Jahr keine Bedenken. "Ich segle hier seit mehr als 20 Jahren und hatte nie irgendein Problem - und werde hoffentlich auch keins haben! Klar ist das nicht das sauberste Wasser, das es gibt. Aber ich glaube, das wird kontrolliert. Und falls es überhaupt irgendwelche Vorfälle gab, war das eher die Ausnahme." Obwohl er seinen Platz bei Olympia 2016 schon vor Monaten gesichert hatte, ist er gerade beim letzten Qualifikationswettbewerb mitgesegelt: dem Brasilien Cup, der kurz vor Weihnachten in der Guanabara-Bucht ausgetragen wurde. Dass die nachhaltigen Säuberungszusagen auf der Strecke bleiben, bedauert er trotzdem sehr: "Eine saubere Bucht: Das wäre ein wichtiges Erbe für die Stadt!"

Robert Scheidt, Brasiliens erfolgreichster Olympionike (Foto: Bianca Kopsch / DW)
Segler Scheidt sorgt sich nichtBild: DW/B. Kopsch

Das olympische Erbe

Das Thema Nachhaltigkeit ruft viele Kritiker auf den Plan. Sie sprechen von einem Ausverkauf der Stadt. Verantwortlich dafür sei das von den Olympia-Organisatoren propagierte "Public Private Partnership": Nur 40 Prozent der Ausgaben für Olympia werden aus öffentlichen Mitteln bezahlt, so die offizielle Rechnung. Rund 60 Prozent trage die Privatwirtschaft, hauptsächlich Immobilienfirmen. Doch die bekommen dafür Baulizenzen auf öffentlichem Grund sowie Steuerbefreiungen. Dies sei am Ende mehr wert als die geleisteten Arbeiten und ginge zu Lasten der Stadt, meinen Aktivisten des Volkskomitees der Olympiakritiker. Sie sehen die Kostenverteilung genau umgekehrt - und in dem gesamten Modell eine Gefahr: "Die öffentlichen Interessen und der öffentliche Raum werden den Interessen und der Führung von Baufirmen unterstellt. Sie übernehmen öffentliche Aufgaben und verändern die Stadt nach ihren profitorientierten Vorstellungen und nicht nach den Bedürfnissen des Volkes", sagt Orlando Santos Júnior, Professor für Stadtplanung an Rios staatlicher Universität und Aktivist im Volkskomitee.

Das beste Beispiel, wo öffentliches Land in private Hände übergeben wurde, sei der Olympische Park inklusive Athletendorf. Einige der Sportstätten werden nach den Olympischen Spielen für den Hochleistungssport genutzt - der Breitensport bleibe außen vor, andere wiederum sollen abgebaut werden. Als Nachhaltigkeitsexempel der Olympia-Organisatoren dient die Handballarena: Sie wird nach den Spielen demontiert und auf vier öffentliche Schulen verteilt wieder neu errichtet. Ähnliches gilt für den olympischen Schwimmpark. Doch die Kritiker wollen sich nicht von Einzelbeispielen blenden lassen. Ihnen geht es ums große Ganze: Zwar soll ein Teil des Geländes später als öffentlicher Park erhalten bleiben, auf einem anderen Teil hingegen sind Luxusapartments geplant. Für die Baufirmen ein lukratives Geschäft. Sie vermarkten heute schon die Apartments des angrenzenden Athletendorfs als exklusive Wohnungen für danach. Das schicke Geschäfts- und Wohnviertel Barra da Tijuca wird dadurch genau wie durch die Anbindung an das U-Bahnnetz weiter aufgewertet. Der Großteil der Einwohner Rio de Janeiros lebt aber woanders, in meist armen Bezirken. "In Barra leben rund 300.000 Menschen, im Großraum Rio hingegen an die 12 Millionen. Das heißt, eine dünn besiedelte Region wird hoch entwickelt - auf öffentliche Kosten - und der Großteil der Bevölkerung hat nichts davon. Das ist eine vertane Chance", mahnt der Professor.

Das Olympische Dorf in Rio de Janeiro (Foto: VANDERLEI ALMEIDA/AFP/Getty Images)
Erst Athletendorf, später LuxusapartementsBild: Getty Images/AFP/V. Almeida

Spiele der Reichen?

Die wenigen Armen, die von diesem Wandel vor Ort hätten profitieren können, wurden vertrieben: Die Favela Vila Autódromo lag bei den Planungen für Straßen, U-Bahn und Olympiapark im Weg. Die meisten Bewohner wurden umgesiedelt bzw. verdrängt. Genau wie Tausende andere Menschen den Bauarbeiten für die Fußball-WM und Olympia in Rio weichen mussten. Zumindest die Vila Autódromo sollte eigentlich erhalten bleiben, ein preisgekröntes Stadtplanungsprojet zeigte, wie. Doch fast immer wurde dort geräumt, wo Immobilienspekulation mit im Spiel war, analysiert das Volkskomitee. Das Bauland für das neue Luxusviertel im Olympiapark steigt ohne das benachbarte Armenviertel zweifellos im Wert.

Dabei sollen von den Olympischen Spiele doch alle profitieren, wie der Bürgermeister immer wieder vollmundig verspricht. Zusammenwachsen soll Rio, gerechter werden. Sein Mantra gegen soziale Proteste vor Olympia. Vor der Fußballweltmeisterschaft hatte es schon große Demonstrationen gegeben, weil das Geld statt in das marode Bildungs- und Gesundheitssystem in WM-Bauten gesteckt wurde. Und auch diesmal gingen die meisten Investitionen wieder an den Grundbedürfnissen der Bevölkerung vorbei, kritisiert das Volkskomitee. Das kostspielig revitalisierte Hafenviertel diene eher der Mittelschicht als neues Ausgehviertel mit schickem neuen Museum und vielen Kneipen, während das einfache Volk unter den Notständen in Rios Krankenhäusern leidet. "Olympia ist wie ein Freifahrtschein, um alles zu bauen, was zu einer anderen Zeit sozial nicht durchsetzbar gewesen wäre", meint Urbanist Orlando Santos Júnior.

Der Sicherheitsfaktor

Den Ernst der Lage spürt man in Rio auf der Straße: Die Zahl der Überfälle steigt und die Meldungen über Friedenspolizisten, die "aus Versehen" in den Armenvierteln junge, schwarze Männer erschießen, häufen sich. Doch: "Die Spiele werden sicher", verspricht der Chefkommunikator des Organisationskomitees, Mario Andrada. Brasilien sei vorbereitet und habe ein tragfähiges Sicherheitskonzept - für Terrorgefahr genauso wie für die Straßenkriminalität. 85.000 Sicherheitskräfte sollen im Vorfeld und während der Spiele im Einsatz sein. Bei den Spielen in London 2012 waren es nur halb so viele. Dass Rios Behörden sichere Spiele abliefern werden, daran zweifelt so gut wie niemand. Die Stadt besitzt eines der modernsten Kontrollzentren der Welt: hier laufen die Fäden von Polizei, Feuerwehr und den Rettungsdiensten zusammen. Das hat sich schon während der WM bewährt. Sorgen müssen sich die Brasilianer wohl erst, wenn alles vorbei ist. Denn wie es nach Olympia im Land weitergeht, ist die große Frage.

Auch sportlich brillieren

Ein Platz unter den Top Ten im Medaillenspiegel ist das erklärte Ziel Brasiliens. Das lässt sich das Land fast 400 Millionen Euro kosten. Das Budget gilt für den gesamten olympischen Zyklus bis zu den Spielen. Das ist mehr als doppelt so viel als in den vier Jahren vor Olympia in London 2012 ausgegeben wurde. Von dem Geld werden Trainergehälter bezahlt, Athletenstipendien, Reisen zu Trainingslagern oder Wettkämpfen sowie Equipment. Die Investition soll sich lohnen: 27 Medaillen werden angepeilt. Ein ehrgeiziges Ziel, hat es Brasilien doch mit bislang 22 Olympiateilnahmen nur auf insgesamt 108 Medaillen gebracht. Und in London landeten die Athleten lediglich auf Platz 22 im Gesamtranking.

Doch im Vorfeld sieht es diesmal besser aus: Noch nie ist Brasilien so erfolgreich in ein olympisches Jahr gestartet: 67 Medaillen in 15 olympischen Disziplinen hat das Land in den letzten drei Jahren bei Weltmeisterschaften oder vergleichbaren Wettkämpfen errungen. Im gleichen Zeitraum im vergangenen olympischen Zyklus waren es nur 40. Neben ihren Paradedisziplinen wie Beachvolleyball oder Judo haben es die Brasilianer dabei auch mit neuen Sportarten aufs Podium geschafft. Zu den Favoriten zählen jetzt auch Handball, moderner Fünfkampf und der Kanurennsport.

Die deutschen Spieler jubeln nach dem 7:1-Sieg über Brasilien (Foto: REUTERS/Leonhard Foeger)
Das mit 1:7 gegen Deutschland verlorene WM-Halbfinale im eigenen Land schmerzt die Brasilianer noch immerBild: Reuters

Sportlich betrachtet wollen die Brasilianer aus den olympischen Spielen auf jeden Fall glorreicher hervorgehen als aus der letzten Fußball-WM. Die desaströse 1:7-Niederlage im Halbfinale gegen Deutschland schmerzt noch immer. Und obwohl die Vorbereitungen zu den ersten Olympischen Sommerspielen in Südamerika besser laufen als die zur Fußball-Weltmeisterschaft, kann man sich in Brasilien auf eines verlassen: Es wird auch diesmal ein Hürdenlauf - und bis zum letzten Moment spannend bleiben!